BioShock – im Klassik-Test (360)

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Spiel:BioShockPublisher:Take 2Developer:Irrational GamesGenre:Action-AdventureGetestet für:360Erhältlich für:360USK:18Erschienen in:10 / 2007

“Zeit, ein bisschen zu träumen, Mr. B.”, jammert ein erschöpft klingendes Stimmchen, das durch die Finsternis an meine Ohren dringt. Prompt springt mein Beschützerinstinkt darauf an. Dieses Mitgefühl ist hier jedoch fehl am Platz, denn das verhärmte Mädchen mit dem schmutzigen Kleidchen und den dämonischen Augen hat bereits einen Aufpasser und der ist viel größer und stärker als ich. Ein herzzerreißendes Schauspiel findet soeben statt: Der bedrohliche Riese, dessen antik-rostiger Tauchanzug keinerlei menschliche Züge vermittelt, hält inne. Seine schweren Schritte, die eben noch durch das farbgetränkte Halbdunkel eines verrottenden Flures donnerten, verhallen; die Kreatur wendet sich seiner Begleiterin zu und streicht ihr mit seinem verwitterten Lederhandschuh tröstend über das winzige Haupt. Dieses hilflose Geschöpf wird in wenigen Augenblicken meiner Gier zum Opfer fallen. Es sei denn, ich entscheide mich für seine Rettung und bin gewillt, Nachteile in Kauf zu nehmen. Dass ich später für meine Barmherzigkeit entlohnt werden sollte, ahne ich zu diesem Zeitpunkt nicht.

Immer wieder werdet ihr Zeuge solcher Situationen, doch BioShock bietet weit mehr als das: Wer sich darauf einlässt, taucht ein in ein mit- reißendes Wechselbad verstörender Emotionen. So macht sich gleich zu Beginn, als Ihr nach einem Flugzeugabsturz als einziger Überlebender im schwarzen Wasser treibt, umringt von Wrackteilen und Flammen, Verzweiflung breit. Was nun? Euer Held Jack entdeckt einen nahegelegenen Leuchtturm, in dessen Inneren eine Tauchglocke darauf wartet, von Euch bestiegen zu werden. Auf der Fahrt in die Tiefe entdeckt Ihr eine verstörend schöne Stadt: Rapture. Einst von ihrem Begründer Andrew Ryan als Zufluchtsort für wohl- habende Schöngeister erdacht, die dort frei von moralischen Beschränkungen ihr Potenzial verwirklichen sollten, wurde das utopische Unter- fangen von einer verhängnisvollen Entdeckung zunichte gemacht. Aus einer Seeschnecke extrahierten Forscher eine Substanz, die in der Lage war, den menschlichen Gen-Code zu verändern und den körperlichen Verfall aufzuhalten. Das so genannte ‘Adam’ hatte für die Bewohner jedoch verheerende Nebenwirkungen: Es trieb die ‘Splicer’ in den Wahnsinn, das Absetzen der Substanz beschleunigte den physischen Verfall. So wurde aus dem Wundermit- tel für Eitle eine tödliche Währung. Von der Gier nach der nächsten Adam-Injektion getrieben, fielen die genetisch modifizierten Bewohner übereinander her und zerstörten den Traum einer besseren Welt.

Da in BioShock das Entdecken der Möglichkeiten einen Großteil des Reizes ausmacht, wollen wir in diesem Test weniger auf spielerische Details, sondern vielmehr auf die grundsätzliche Struktur eingehen, um Euch nichts zu verraten.

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In den ersten zwei bis drei Spielstunden erkundet Ihr linear aufgebaute Abschnitte der riesigen Spielwelt. Während dieser Phase bringen Euch die Entwickler Schritt für Schritt die grundlegenden Spielmechaniken in Form erklärender Tonbandaufnahmen und inszenierter Situationen nahe, in denen Ihr soeben erlernte Fähigkeiten ausprobiert. Angesichts der Fülle von Interaktionsmöglichkeiten ein löbliches Unterfangen. Ab dem dritten Abschnitt öffnet sich Rapture und verliert an Linearität. Nun seid Ihr häufig auf Euch gestellt und die liebgewonnene Kompass- nadel weist Euch nur noch selten den Weg.

In Rapture gibt es vier Fraktionen, die gegeneinander arbeiten: Neben dem eingangs beschriebenen Gespann aus Big Daddys und Little Sisters treiben die degenerierten Splicer in der Unterwasserstadt ihr Unwesen. Rapture verfügt über ein ausgeklügeltes Sicherheitssystem aus Selbstschussanlagen, Wachkameras und schießfreudigen Flugdrohnen. Und dann gibt es noch Euch!

Während die Splicer, die unterschiedliche Stärken und Schwächen aufweisen, wehklagend umherstreifen und Euch bei Sichtkontakt sofort äußerst aggressiv angreifen, verhalten sich die Little Sisters friedlich. Auch die Big Daddys behelligen Euch nicht, solange Ihr keine Bedrohung darstellt. Stattdessen gehen sie ihrer Arbeit nach: Sie begleiten die kleinen Mädchen, während diese nach herumliegenden Leichen suchen, um ihnen Adam zu entziehen. Da neben den Splicern und den Little Sisters auch Ihr auf die tödliche Gen- Währung angewiesen seid, kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen. Die Sicherheitsanlagen wiederum reagieren nur auf Euren Helden, es sei denn Ihr manipuliert sie…

Neben einer guten Hand voll Waffen, die allesamt über verschiedene Munitionstypen verfügen, setzt Ihr Euch mit Hilfe einer Vielzahl von Plasmiden und Tonika zur Wehr. Diese genetischen Modifikatoren platziert Ihr in einer begrenzten Anzahl von Slots, dürft sie aber an großzügig verteilten Gen-Banken nach Belieben auswechseln. Neue Fähigkeiten erwerbt Ihr durch Adam, welches Ihr wiederum von den Little Sisters bekommt.

Gewissensfrage: Tötet Ihr die Mädchen, bekommt Ihr mehr Adam, rettet Ihr sie, bekommt Ihr neben einem alternativen Ende gelegentliche Präsente, die Euch andernfalls vorenthalten werden.

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Wie Ihr Euch auch entscheidet: Vorher gilt es, die Umgebung und Fähigkeiten zu nutzen, um die Big Daddys auszuschalten. Kein ein- faches Unterfangen, denn die gepanzerten Riesen sind zäh, wendig und aggressiv. Solltet Ihr trotz aller Wehrmöglichkeiten das Zeitliche segnen, erwacht Ihr in einer nahe- gelegenen Vita-Chamber zu neuem Leben. Zwar startet Ihr mit dem Munitionsstand zum Zeitpunkt Eures Ablebens, Gegner sind dafür aber genauso angeschlagen, wie Ihr sie zurückgelassen habt. Da Munition meist knapp ist, seid Ihr entweder auf Eure Plasmid-Fertigkeiten ange- wiesen oder Ihr stellt selbst neue Projektile an U-Invent-Stationen her. Dazu verwendet Ihr Bauteile, die Ihr beim Durchsuchen von Schränken, Safes oder Leichen findet. Hackt Ihr Euch in die Bastel-Automaten, benötigt Ihr weniger Rohstoffe.

Das Hacken spielt in BioShock eine wichtige Rolle: Um beispielsweise das Sicherheitssystem zu manipulieren, greift Ihr auf automatische Hacking-Tools zurück oder absolviert eine Knobelaufgabe: Wie im Puzzle-Klassiker Pipe Dream ordnet Ihr Rohrstücke innerhalb eines Zeitlimits so an, dass eine Flüssigkeit vom Start zum Ziel fließen kann. Hindernisse erschweren gelegentlich die Grübelarbeit, wohingegen diverse Plasmide diesen Vorgang vereinfachen können. Etwas schade finden wir allerdings, dass in den zahlreichen Hack- Einsätzen stets das gleiche Minispiel zum Einsatz kommt. Hier hätten wir uns beispielsweise für Verkaufsautomaten und Kameras unterschiedliche Aufgaben gewünscht.

Apropos Kamera: Ihr habt ebenfalls eine im Gepäck. Sie kommt bei diversen Aufgaben zum Einsatz, gelungene Schnappschüsse verschaffen Euch Vorteile.

Audiovisuell ist “BioShock” ebenso originell wie fesselnd. Einzelne Texturen sind zwar beim genauen Hinsehen nicht auf dem neuesten Stand und wirken etwas matschig, das stimmungsvolle und unverbrauchte Art-Design kompensiert dieses kleine Manko aber locker. Kraftvolles Orange oder Rosa setzt im vorherrschenden Dunkelgrün des Meerwassers intensive Akzente. In Kombination mit dem heruntergekommenen Interieur der einzelnen Stadtbereiche, die einst durch elegante Art-Decó-Formen und stilsicheres Mobiliar bestachen, entfaltet sich eine verstörende Wirkung. Verstärkt wird diese durch eine hervorragende Klanguntermalung. Über eine Surround-Anlage ortet Ihr stampfende Big Daddys oder leise surrende Überwachungskameras.

Take 2 hat sich bei der Lokalisierung viel Mühe gemacht. Vor allem die deutsche Sprachausgabe setzt Maẞstäbe: Splicer fluchen und jammern, Little Sisters trällern fröhlich oder weinen bitterlich, selbst verrauschte Tonbandaufnahmen strotzen vor Ausdrucksstärke – professionelle Sprecher lohnen sich eben doch. Gekrönt wird dieser audiovisuelle Leckerbissen durch einige heftige und clever platzierte Schockmomente. Wir empfehlen übrigens den mittleren Schwierigkeitsgrad, denn auf ‘leicht’ hauchen die Big Daddys bereits nach wenigen Schrotladungen ihr Leben aus und die bedrohliche Atmosphäre leidet immens. Die minimalen Schnitte der deutschen Version fallen atmosphärisch wie spielerisch nicht ins Gewicht: Noch immer rennen brennende Gegner schreiend umher, lediglich auf das Herumschleudern von Leichen müsst Ihr verzichten.

Meinung

Michael Herde meint: “Ich hab’ ein Wehweh am Knie…”. Als sich die Little Sister nach einem Splicer-Angriff wehleidig beklagte, war ich betroffen. Selten ist es einem Spiel gelungen, solche Gefühle überzeugend zu vermitteln. Wenn die Übeltäter mich dann noch beschimpfen, wird klar: Die deutsche Synchro und der Sound sind Referenzklasse, die Atmosphäre ist top und die Spielwelt glaubwürdig. BioShock bietet zudem ein Füllhorn an Vorgehensweisen. Redaktionsintern geht die Frage um: “Wie hast du diese Passage gespielt?”. Die Antworten fielen höchst unterschiedlich aus, was dem Wiederspielwert zu Gute kommt. Mein Ausflug nach Rapture war ein verstörender Albtraum in bunten Farben und Klängen. Spielerisch gibt’s Kleinigkeiten zu bemängeln, was ich aber den Kollegen überlasse. BioShock hat mich tief berührt und nachhaltig beeindruckt.

Oliver Schultes meint: BioShock kommt mir wie eine Hommage an die Ego-Shooter-Referenz Half-Life 2 vor. Die Spielwelt erklärt sich Euch von selbst, ohne dass Ihr seitenweise Textboxen lesen müsst, und die Möglichkeiten, das Abenteuer zu meistern, sind unzählig. Zudem ist die Atmosphäre des Unterwas- ser-Knallers ähnlich dicht wie bei Valves SciFi-Ballerei. BioShock legt in puncto Horror aber eine ordentliche Schippe drauf: Beim Zocken rutschte mir mehrmals das Herz in die Hose! Obwohl Take 2s Art-Decó-Kunstwerk in höchsten Spielspaßsphären schwebt, muss ich Kleinigkeiten bekritteln: So wirkt BioShock gegen Ende mit seinen ‘Sammle fünf hiervon und drei davon’-Aufgaben etwas gestreckt. Außerdem hätte ich mir die Kämpfe gegen die Big Daddys ausgewogener gewünscht – ihren Rammattacken in den engen Räumen auszuweichen, ist ganz schön knifflig!

Matthias Schmid meint: Warum bin ich von BioShock nicht so beeindruckt wie die Kollegen? An der genialen Atmosphäre, dem einzigartigen Setting und der kranken Story kann’s nicht liegen. Wohl, weil mich einige Kleinigkeiten stören: Ständig Medipacks einzusetzen und jeden Millimeter von Rapture nach Munition absuchen zu müssen, finde ich ein bisschen altmodisch. Auch stört mich das einseitige aggressiv-hektische Angriffsverhalten der Splicer. Und warum kann ich nicht gleichzeitig ballern und Plasmide einsetzen?

André Kazmaier meint: Die Big Daddys sind schön und gut, was BioShock aber für mich auszeichnet, ist das ge niale Plasmidsystem. So viel Raum zum Experimentieren bietet kein anderes Spiel. Deshalb kann ich selbst Ego-Shooter-Verächtern einen Probezock ans Herz legen. Nur das Missionsdesign (laufe von A nach B) und die immer gleichen Geschicklichkeitseinlagen sind deplatziert.

Wertung

20 Stunden Umfang
große spielerische Freiheit
von den Machern von “System Shock 2”
erscheint auch als Collector’s Edition
deutsche Version minimal geschnitten
deutsche und englische Sprachausgabe
hervorragende deutsche Synchro

Ego-Shooter, Survival-Horror, Rollenspiel: “BioShock” führt die Stärken mehrerer Genres unnachahmlich zusammen.

Singleplayer93MultiplayerGrafikSound

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