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Als im Jahr 2013 Ryse: Son of Rome (XOne) und 2015 The Order: 1886 (PS4) erscheinen, sind die Walking Simulatoren gerade dabei, sich auf dem Indie-Markt zu etablieren. Die cineastischen Toptitel der Plattformbetreiber ohne spielerischen Tiefgang werden damals mit dem Vorwurf ”Grafikblender” abgefertigt. Mit ”Hellblade: Senua’s Sacrifice (2017) liefert Ninja Theory noch als Indie-Entwickler ein atmosphärisches Brett ab. 2018 wird das Studio von Microsoft übernommen und veröffentlicht jetzt das lang erwartete Sequel als Exklusivtitel. Und wenn wir uns am Maßstab von vor 10 Jahren orientieren und uns nun erneut die Frage stellen ”Ist Hellblade II ein Grafikblender?”, dann ist die Antwort eindeutig: ja, aber der wuchtigste Blender, den es bislang gab.
Eine deutliche Empfehlung vorab: Spielt zuerst den Vorgänger! Für Neueinsteiger oder Vergessliche gibt es zwar eine Zusammenfassung der früheren Ereignisse, da Euch das Spiel aber ansonsten einfach in die intensive Action wirft und ein wichtiger Aspekt des Titels Eure Bindung zur Hauptfigur ist, könnten Euch viele Bausteine für ein rundes Erlebnis fehlen.
Die bierdeckeldünne Geschichte versetzt Euch in der ca. siebenstündigen Kampagne erneut in die unter Psychosen leidende Kriegerin Senua. Ihr werdet gemeinsam mit einigen Stammesleuten von einem Sklavenhändler verschleppt und strandet an der Küste Islands. Senua macht es sich nach dem Schiffbruch fortan zur Aufgabe, die Sklaverei zu beenden. Dabei trifft sie diesmal auch auf ein paar wenige Nebencharaktere, die leider erst im New Game+ als alternative Erzählstimmen mehr Tiefe bekommen. Mehr wollen wir zur Haupthandlung und den Figuren hier nicht verraten.
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Spielerisch ist auch Hellblade II wie der Vorgänger ein sehr geradliniger Walking Simulator mit eingestreuten Rätseln (siehe Kasten) und diesmal noch mehr Wellenkämpfen, die über simple Duelle stattfinden (optional automatisch ablaufend). Hier hat sich also wenig getan.
Bei der Inszenierung jedoch schöpfen die Entwickler technisch aus dem Vollen und setzen auf ein interaktives Kinoerlebnis, bei dem Ihr abseits Helligkeit oder Bewegungsunschärfe keine Anpassungsmöglichkeiten bekommt. Auch Grafikmodi gibt es keine. Das bedeutet: Ihr erhaltet auf der Series X nur konstante 30 fps. Dank CinemaScope-Format seht Ihr zudem dicke schwarze Bildschirmbalken. Effekte wie Filmkörnung und chromatische Aberration sorgen zusätzlich für ein verstärktes Kinoflair. Zwar passt es unserer Ansicht nach perfekt zum Spiel, trotzdem dürfte die hohe Filter- und Effektdichte nicht jedermanns Sache sein.
Habt Ihr Euch auf all das eingestellt, dann könnt Ihr Euch verstärkt über die bombastische Präsentation freuen, die Ihr unbedingt mit Kopfhörern erleben solltet. Die Stimmen in Senuas Kopf haben sich zwar gewandelt und debattieren jetzt fast schon miteinander, aber sie entfachen weiterhin durch pausenlose Kommentare, die Euch aus jeder Windrichtung entgegenschallen, eine überwältigende Wirkung. Auch die restliche Soundkulisse lässt Euch bei prasselnden Stürmen oder krachenden Klingenkämpfen kaum zur Ruhe kommen.
Optisch ist Hellblade II über ziemlich jeden Titel erhaben. Zwischensequenzen lassen sich mit bloßem Auge kaum von Echtzeitszenen unterscheiden. Gesichter sahen in Bewegung noch nie so detailliert und realistisch aus. Selbst in den Kämpfen erkennt Ihr die Emotionen Eures Gegenübers klar und deutlich. Features der Unreal Engine 5 wie Lumen oder Nanite werden von Ninja Theory formidabel genutzt, um natürlich-schöne Lichtstimmungen und Umgebungen zu zaubern. Mit schicken Kniffen wie einem Reise-Effekt werden außerdem fast alle Ladezeiten vermieden. Dadurch wirkt Senuas zweite Reise wie interaktiver Film, der audiovisuell enorm beeindruckt.
Meinung & Wertung
Steffen Heller meint: Der Vorgänger war ein fantastisches Stimmungshighlight. Der Nachfolger ist in Sachen Technik noch umwerfender. Die Optik ist fett, selbst wenn ich mich häufig über etwas weniger Effekte und Filter gefreut hätte. Das ist jedoch eine Geschmacksfrage. Warum kein ”Super”-Gesicht? Weil das Sequel nicht den Überraschungseffekt hat und die Story einige Schwächen beim Tempo und in der Erzählung aufweist. Häufig überkommt einen das Gefühl von aufgewärmter Suppe, die beim zweiten Mal nicht mehr ganz so gut schmeckt. Und wenn ich ehrlich bin: Gäbe es nicht die bombenstarken Furien, die sieben Stunden lang mit verbalem Dauerfeuer über meine Kopfhörer auf mich eindreschen, dann bliebe von meiner Begeisterung für Senua vermutlich nicht viel übrig. Dank der Stimmen ist Hellbade II auch 2024 ein Highlight.
Michael Herde meint: Audiovisuell ist Hellblade II die Wucht in Tüten, ich kam von Anfang bis Ende aus dem Staunen nicht heraus. Das hat auch einen Nachteil, denn mangels deutscher Vertonung konnte ich den inneren und äußeren Stimmen wegen der Reizüberflutung trotz guter Englischkenntnisse nicht immer folgen. Letztendlich hat mich Senuas Geschichte weniger berührt als im Vorgänger. Vielleicht habe ich wichtige Details verpasst. Oder es liegt daran, dass es diesmal weniger um Senuas inneren Konflikt geht, sondern um ihre Interaktion mit der Außenwelt, was an sich natürlich konsequent weitergedacht ist. Ich hatte auch den Eindruck, dass die Stimmen im Kopf meist nur das Offensichtliche kommentieren und den inneren Monolog als Reaktion auf äußere Ereignisse abbilden. Andererseits habe ich mich über ihre Tipps gefreut. Zwar sind weder Wegfindung noch Kämpfe, Such- und Schalterrätsel kompliziert und spielerisch uninteressant, von der intensiven Inszenierung war ich aber manchmal schlicht überfordert.
Optisch und akustisch das bisher beste Spiel des Jahres. Story und spielerische Unfreiheit enttäuschen jedoch.
Singleplayer81MultiplayerGrafikSound
