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Der Adler ist gelandet. Nach zwei Jahren Entwicklungszeit überwindet Mass Effect den Ereignishorizont des schwarzen Xbox-360-Rollenspielloches und fährt als einsames Flaggschiff gegen die japanische RPG-Flotte die Schilde hoch. Mass Effect, das Mega-SciFi-Epos steht pünktlich zur sternklaren Weihnacht in einer komplett eingedeutschten Version in den Händlerregalen und knüpft genau da an, wo Bioware 2003 mit Knights of the Old Republic aufgehört hatte. Das Weltallmärchen, das diesmal auf einem von Bioware selbst geschaffenen Szenario basiert, enthält aber auch Elemente des 2005er RPG Jade Empire. Vor allem der Ansatz ’weg vom Rundenkampf’ wurde konsequent weitergeführt. So verwundert es nicht, dass Commander Shephard sich für seine Selbstverteidigung bei dem Genre bedient, das am ehesten zum waffenstarrenden Ton der Weltraum-Oper passt: Mass Effect ist zu einem Drittel ein Shooter!
Lässt man sich auf die umwerfend umfangreiche Weltsimulation ein, die Mass Effect ist, teilen sich die Action-, Dialog-, und Erkundungs-Phasen des Spiels etwa gleich auf. Diese Dreiteilung erfährt allerdings nur, wer an Bord des Mutterschiffes Normandy den Kontakt zu seinen KI-kontrollierten Squad-Kollegen sucht und neugierig die Weiten des Weltalls erforscht, anstatt stur der Hauptgeschichte zu folgen. Nach der einführenden Mission habt Ihr in der Gestalt des frei erstellbaren Commander Shephard selbst die Wahl, wie Ihr Mass Effect erleben wollt.
Zwar führt Oblivion nach wie vor die Xbox-360-RPG-Riege an, was die Möglichkeiten des Charakter-Editors und die Anzahl der Sidequests angeht, doch Mass Effect versteht es besser, Euch tatsächlich ein riesiges, mit Wundern gefülltes Universum vorzugaukeln. Dabei benutzt das Spiel allerlei Tricks, die Euch einerseits das Gefühl geben, von der Brücke der Normandy aus die gesamte Galaxis erreichen zu können, andererseits aber die begrenzten Ressourcen der Entwickler berücksichtigen. So erforscht Ihr auf der Suche nach dem abtrünnigen Spectre-Agenten Saren als erster menschlicher Spectre-Agent einer interplanetarischen Vielvölker-Allianz die mysteriöse Attika-Traverse, auf deren Planeten nicht nur Storymissionen, sondern auch etliche Nebenquests spielen.
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Die Navigation von Planet zu Planet läuft dabei recht simpel ab. Auf einer prachtvollen Hologramm-Karte der Galaxie, die offensichtlich von den ”Star Trek”-Filmen inspiriert wurde, klickt Ihr Euch flott vom obersten Galaxis-Level durch Cluster und Sonnensysteme, bis Ihr den Planet Eurer Wahl vor Euch habt. Eine umfangreiche Beschreibung informiert über Besonderheiten, manchmal entdeckt Ihr wichtige Ressourcen, seltener könnt Ihr tatsächlich landen.
Je nach Planet findet Ihr auf den mitunter äußerst atmosphärischen, wenn auch technisch nicht ganz zeitgemäß dargestellten Welten dann ein paar Ruinen zum Ausräumen, fiese Weltallpiraten oder ähnliches Kanonenfutter sowie Aufgabenstellungen, nach deren Erledigung die immens spannende Hintergrundgeschichte vorangetrieben wird. Diese dreht sich um das Vermächtnis der Protheaner, einer ausgestorbenen Superrasse, auf deren Technologie die Fähigkeit der All-Bewohner zum interstellaren Reisen beruht. Bösewicht Saren will den wahren Grund für deren Verschwinden für seine finsteren Pläne benutzen und zieht deshalb mit einer Bande aus kroganischen Kriegern und marodierenden Geth-Androiden durchs All.
Die Planetenerkundung läuft stets in zwei Phasen ab. Mit dem Mako, einem sechsachsigen Erkundungsgefährt, das in Design und Steuerung stark an den störrischen Halo-Buggy erinnert, prescht Ihr durch die unbewohnten Weiten der fremden Welt. Je nach planetarer Situation seid Ihr im Inneren des Mako vor schädlicher Strahlung geschützt, müsst mit der Bordkanone feindliche Einheiten oder Geschütztürme wegblasen oder durch holpriges Gelände brettern. Da die Steuerung des teils wild herumschlingernden Gefährtes einiger Übung bedarf, ist die mitgelieferte Reparatur-Funktion des Mako ein mehr als willkommenes Feature. Mit Universal-Gel, einem unter anderem aus Gegenständen gewonnenen Rohstoff, könnt Ihr nicht nur Euer sturmreif geschossenes Vehikel flicken, sondern auch Schlösser öffnen oder Computersysteme hacken. Wenn Ihr solche, meist mit einfachen Tastendruck-Reaktionstests verbundenen Aktionen durchführt, befindet Ihr Euch aber schon lange in der zweiten Erkundungsphase. Zu Fuß marschiert Ihr mit zwei, leider teils hoffnungslos dämlich agierenden KI-Kameraden durch rote, gelbe und grüne Felswüsten, von Geth infizierte Bauwerke und Tunnelsysteme.
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Kommt es zum Kampf, zückt Ihr eine von vier Waffen und rückt der aus allen Rohren ballernden Meute mit Pistolen, Schrotflinten, Sturm- oder Präzisionsgewehren zu Leibe. Je nach anfangs gewählter Charakterklasse seid Ihr im Umgang mit unterschiedlichen Waffen geübt. Gattungen, die Ihr nicht trainiert habt, könnt Ihr zwar nutzen, habt aber keine Zielhilfen auf dem Bildschirm. Diese erleichtern Euch den Kampf gegen Sarens Schergen per HUD-Display und markieren Gegner in Reichweite. Die Kämpfe seht Ihr aus einer Resident Evil 4-Perspektive, per linker Schultertase platziert Ihr die Kamera hinter Shephards Ohr, die rechte Schultertase feuert Euren Prügel ab. An bestimmten Orten geht Eure Spielfigur automatisch in Deckung, aus der Ihr kurze kontrollierte Feuerstöße abgeben könnt. Eure selbstständig agierende Squad befehlt Ihr per Digipad, Euer Ziel anzugreifen oder sich zurückzuziehen.
Dieses Konzept ist in der Praxis leider nicht frei von Fehlern. Allzu oft seht Ihr wegen inkompetenter Squad-Kameraden, bockiger Deckungs-Automatik oder plötzlich nach Zwischensequenzen auftauchenden Feinden den Ladebildschirm. Das macht allerdings wenig aus, denn Mass Effect entschädigt Euch auf der anderen Seite mit einem detailliert konstruierten Weltall, unfassbar lebensechten Figuren, einem motivierenden Punktesystem zur Entwicklung Eurer Charaktere, dem aus KOTOR bekannten Moral-Konto, umfangreichen Tuningmöglichkeiten für Eure Ausrüstung und einem ganz hervorragenden Soundtrack, der an Metroid erinnert und von den Mysterien des Kosmos kündet.
Nicht zuletzt tragen die filmreifen Dialoge zum Ausnahmestatus des Spiels bei, das Euch mit Lichtgeschwindigkeit an den Bildschirm fixiert und Euch in eine bislang auf der Xbox 360 unerreichte Atmosphäre entführt. Dabei sind es vor allem die nichtmenschlichen Vertreter des virtuellen Schauspieltrupps, deren fotorealistische Hauttexturen und naturalistische Augenbewegungen Euch eine bislang unerreichte Glaubwürdigkeit von Emotionen vermitteln. Zusammen mit den cineastischen Einstellungen, durch die Eure Multiple-Choice-Dialoge zum Kurzfilm mutieren, setzt Mass Effect neue Maßstäbe im Bereich interaktive Erzählung und unterfüttert dieses revolutionäre System mit einer etwa 15 bis 20 Stunden dauernden Hauptstory, die zwar als Trilogie angelegt ist, aber trotzdem befriedigt.
Meinung
Max Wildgruber meint: Mass Effect kriegt von mir einen ’Trotz-Neunziger’. Trotz zu spät ins Bild poppender Texturen. Trotz holprigem Kampfsystem und trotz der schwachen KI. Das alles wird nämlich aufgehoben durch eine verdammt spannende und überraschend reife SciFi-Story, die das heikle Thema Rassismus angeht, technisch brillant gemachte Dialogsequenzen, die in der deutschen Fassung bis auf einige Nebenrollen gut besetzt wurden und das von Bioware bekannte Moralsystem, das diesmal zwar keine Fähigkeiten freischaltet, dafür aber die Interaktion mit Euren Mitmenschen und den genial designten Aliens beeinflusst. Das Gefühl, als Raumschiffkommandant einen ganzen Kosmos zu bereisen, ist überwältigend und hitverdächtig!
Wertung
frei erkundbares Universum, dessen Inhalt online erweiterbar ist
Shooter-Kampfsystem mit Macken bei der KI
frei erstellbare Spielfigur und sechs vorgefertigte Mitstreiter mit Charakter
Wegweisendes Action-RPG, das in puncto Charakterdarstellung, Erzählung und Atmosphäre neue Maßstäbe setzt.
Singleplayer90MultiplayerGrafikSound