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Kaim Argonar ist unsterblich, hat aber keinen Spaß daran. Anstatt den ganzen Tag Musik von Queen zu hören und schwertschwingenden Punks die Rübe abzusäbeln, stolpert der kampferprobte Pseudo-Highlander auf der Suche nach seinen Erinnerungen durch die industriell-magische Fantasywelt von Lost Odyssey. Auch wenn 1.000 Jahre an Erinnerungen alleine schon zu Speicherplatz-Problemen im Hirn führen könnten, ist Kaims Amnesie magischer Natur und wurde ihm vom Bösewicht des Spiels angehext. Zusammen mit drei weiteren Unsterblichen und einer Handvoll menschlicher Abenteurer kämpft sich Kaim rundenweise durch fast 50 Stunden und vier DVDs eines klassischen japanischen Rollenspiels, nur um am Ende enttäuscht festzustellen, dass – hoppla, jetzt hätten wir fast das Ende verraten.
Wenn nicht die unrühmliche Blue Dragon-Schlappe gewesen wäre, könnte man glauben, Hironobu Sakaguchi hätte nach Final Fantasy X-2 nichts anderes getan, als mit seiner Firma Mistwalker den nächsten Serienteil zu produzieren, der nun eben aus namensrechtlichen Gründen Lost Odyssey heißt. Der Look, die Blickwinkel der fixen Kamera, die Menüs der rundenbasierten Zufallskämpfe – alles erinnert frappierend an Final Fantasy X. Bei der Charakterentwicklung ging man sogar noch weiter zurück in der Seriengeschichte und grub das – allerdings hochmotivierende – Fähigkeitensystem von Final Fantasy VI wieder aus. Krieger Kaim und seine unsterblichen Kollegen (Piratin Seth, die magisch begabte Königin Ming und Kaims Frau Sarah) lernen ihre Fähigkeiten demnach entweder durch angelegte Accessoires oder von ebenfalls in der Party befindlichen Menschen.
Eine im Laufe der Handlung anwachsende Zahl von Slots dürft Ihr im Charaktermenü frei belegen und dabei aus aktiven Fähigkeiten wie altbekannter schwarzer und weißer Magie oder passiven Skills wie Konterattacken oder Attributsverstärkern wählen. Zusätzlich dazu könnt Ihr jedem Partymitglied einen magischen Ring überstreifen. Diese Kleinode stellt Ihr selbst aus allerlei gesammeltem Krimskrams her und verschmelzt sie später miteinander, um aus zwei schwachen, veralteten Schmuckstücken einen neuen, mächtigeren Ring zu gewinnen.
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Je nachdem, wo Ihr Euch gerade herumtreibt, könnt Ihr Eure Gruppe durch ständiges Anpassen der Fähigkeiten und Ringe auf die jeweiligen, meist unsichtbaren Rundenkampf-Gegner einstellen. Im blutroten Karmesinwald macht Ihr feurige Elementargeister mit Wasser-Ringen nass, einen magischen Kampfpanzer des Freistaates Numara perforiert Ihr mit panzerbrechenden Piercing-Ringen und die magisch-mutierte Monsterbrut in der Umgebung des Zauberkraftwerkes ’Der große Stab’ entsorgt Ihr mit speziellen Bio-Ringen.
Die Reisen zwischen diesen teils grandios gestalteten, teils auf Dreamcast-Niveau herabsinkenden Örtlichkeiten wickelt Ihr per Landkartenmenü ab. Am Anfang der zweiten Spiel-DVD kapert Ihr dann noch ein schnittiges Motorboot, das auf einer in bester Final Fantasy-Tradition abartig hässlichen Oberwelt herumtuckert. Das wirkliche Vehikel der Lost Odyssey-Spielerfahrung ist allerdings die Qualitäts-Achterbahn. Nahezu jeder Spielbereich zeichnet sich durch schwindelnde Spitzenmomente und steile Talfahrten aus. Üppige Stadtpanoramen stehen tristen Textur-Wüsten gegenüber, hochästhetische Grafik wird von Schluckaufanfällen geschüttelt und durch epische Ladepausen ausgebremst.
Die Story schließlich endet in einem uninspirierten Klischee-Wirrwarr, bietet aber andererseits so viele grandiose Einzelmomente, dass Lost Odyssey nur haarscharf am MAN!AC-Prädikat vorbeischrammt. Wenig gelungen ist im Übrigen die deutsche Sprachausgabe, die im Vergleich zur mittelmäßigen englischen Version noch ein paar Unzen weniger Talent enthält. Wer will, stellt auf Englisch oder gar Japanisch um.
Meinung
Max Wildgruber meint: Lost Odyssey ist für mich wie eine Reise in vergangene, glückliche Spieletage. Wenn ich einen mehrteiligen Boss auseinandernehme oder am Ende eines Abschnitts noch einmal kehrtmache, um zu leveln, bin ich zurück in den goldenen Neunzigern. Gegen die erzählerische Größe eines Mass Effect oder die riesige freie Spielwelt eines Oblivion sieht Sakaguchi-sans zweiter Xbox-360-Versuch alt aus. Aber was der Präsentation an technischem Schmackes fehlt, macht sie durch irrwitziges Monsterdesign und so manches fantastische Postkartenszenario wett. Und von der enttäuschenden Auflösung einmal abgesehen – so viel emotionales Potenzial wie Lost Odyssey kann keiner der westlichen Mitbewerber vorweisen.
Wertung
50 Stunden Spieldauer auf vier DVDs, randvoll mit Renderfilmen und Storysequenzen in Spielgrafik
34 Kurzgeschichten erzählen die Hintergrundgeschichte der Charaktere
Nobuo Uematsu Bombast-Soundtrack
Rollenspiel der alten japanischen Schule mit teils großartiger Optik und gegen Ende leider enttäuschenden Story.
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