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Was für ein Jahr für Freunde von Rollenspielen der alten Schule: Mit Marios RPG-Abenteuern, Eiyuden Chronicle, Shin Megami Tensei V: Vengeance, Metaphor: ReFantazio und Dragon Quest III HD-2D Remake können Anhänger rundenbasierter Kampfsysteme aus dem Vollen schöpfen. Und mit Fantasian Neo Dimension bringen Final Fantasy-Schöpfer Hironobu Sakaguchi und sein Studio Mistwalker 2024 zu einem mehr als würdigen Abschluss.
Tatsächlich hat die Fangemeinde lange Zeit auf Fantasian gewartet, erschien es doch bereits 2021 exklusiv im ”Apple Arcade”-Aboservice für iOS-Geräte. Fantasian Neo Dimension ist in vielerlei Hinsicht ein bemerkenswertes Spiel. Zum einen natürlich wegen seiner Schöpfer: Hironobu Sakaguchi ist einer der großen Altmeister des Genres, Komponist Nobuo Uematsu eine lebende Legende – er liefert hier laut eigener Aussage seinen letzten kompletten Rollenspiel-Score ab. Dann ist da die Veröffentlichung an sich: Haben sich Sakaguchi und sein früherer Arbeitgeber Square Enix nicht zuletzt dank der Vermittlung von Final Fantasy XIV-Produzent Naoki Yoshida doch nach mehr als 20 Jahren wieder zusammengerauft, sodass das Mistwalker-Spiel unter der Square-Enix-Flagge erscheint. Und da ist natürlich das Werk an sich, das aufs Faszinierendste klassische und moderne Ansätze verbindet und mit einer grafischen Aufmachung präsentiert, wie man sie in einem Rollenspiel noch nicht gesehen hat.
Traditionell gibt sich Fantasian beispielsweise in seiner Prämisse: Held Leo leidet an der typischsten Heldenkrankheit überhaupt – Amnesie. Die Welt ist derweil in großer Gefahr, wie mechanischer Schimmel breitet sich die Mechteria-Seuche über das ganze Land aus. Menschen, die zu lange oder intensiv mit ihr in Berührung kommen, verlieren erst ihre Emotionen und dann ihr Leben. Aber irgendetwas verbindet Leo mit der Maschinenwelt, aus der die Mechteria zu stammen scheinen. Und so trifft er bald auf eine junge Frau namens Kina, die er in einer Vision gesehen hat – auch sie weiß nicht viel über ihre Vergangenheit, verfügt aber über sehr starke magische Kräfte. Der ideale Auftakt für ein klassisches Rollenspiel-Abenteuer also.
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Auch spielerisch bietet Fantasian viel Vertrautes: Kämpfe werden rundenbasiert ausgefochten, jeder Level-Aufstieg macht die Helden stärker, neue Ausrüstung findet man in Kisten oder in den Läden der zahlreichen Dörfer und Städte. Die Welt wird aus festen Kameraperspektiven dargestellt, hier lassen vor allem die ”Final Fantasy”-Episoden auf der PlayStation grüßen. Und doch ruhen sich Sakaguchi und Mistwalker nicht auf alten Lorbeeren und etablierten Genre-Konventionen aus, sondern verpassen all den vertrauten Elementen ihren eigenen Dreh!
Viele Spieler sehen Zufallskämpfe heute kritisch – und doch setzt Fantasian auf diese Mechanik. Gleichzeitig gibt man Held Leo aber schon nach kurzer Spielzeit ein Werkzeug an die Hand, das alles auf den Kopf stellt: Anstatt jede Begegnung direkt auszufechten, werden all die bissigen Biester in eine andere Dimension geschickt und warten dort, bis diese voll ist. Ihr selbst entscheidet, wann Ihr Euch der stetig wachsenden Monsterhorde stellt: Nehmt Ihr es mit 20 oder 30 Monstern auf einmal auf, sind Eure Reihen- und Flächenangriffe plötzlich viel effektiver. Wer klug agiert, bekommt nützliche Power-ups und am Ende hagelt es natürlich einen dicken Batzen Erfahrungspunkte. Indem man Euch Kontrolle über die Feindbegegnungen gibt, wird der Nerv-Faktor der Gefechte effektiv minimiert.
Fantasian setzt weder auf Echtzeit-3D noch auf die Renderhintergründe früherer Final Fantasy-Episoden oder auf klassische Pixel-Grafik. Stattdessen holte man erfahrene Modellbauer zu Hilfe und erschuf all die Dungeons, Städte, Dörfer, Wälder und mehr als liebevoll gestaltete Miniaturen. Die wurden dann abgefilmt und fotografiert sowie mit Licht-, Schatten- und Wassereffekten versehen, um ihnen Leben einzuhauchen. Vor diesen Szenarien agieren Leo & Co. und der grafische Eindruck ist immer wieder verblüffend. Ja, der Kontrast zwischen den etwas weichgezeichneten Modell-Hintergründen und den hoch aufgelösten Polygonfiguren ist auffällig, lässt die Welt aber gemeinsam mit der Haptik der Umgebungen durchgehend spannend, beeindruckend und auch mal herrlich eigenwillig und seltsam wirken – ein grafisch vergleichbares Rollenspiel-Universum habt Ihr bisher noch nicht erkundet.
Meinung
Thomas Nickel meint: Fantasian trifft meinen Nerv wie sonst kaum ein Spiel in diesem Jahr. Die PlayStation-Jahre waren für mich damals prägend und kein modernes Game fängt den Charme von Final Fantasy VII bis IX so treffend ein wie dieses. Dabei ist Fantasian aber alles andere als ein schnöder Nachschlag: Der Miniatur-Grafikstil verleiht dem Abenteuer seine ganz eigene Atmosphäre, das moderne Spieltempo und viele Komfortfunktionen tun Neo Dimension ebenfalls gut. Es fühlt sich immer wieder herrlich befriedigend an, mit einer durchschlagenden Attacke gleich mehrere Gegner auf einmal wegzuhauen, und gerade das Dimengeon-System ist extrem clever und komfortabel. Da sehe ich auch gerne über die zunächst etwas eigenwillige Steuerung hinweg. Allerdings finde ich es schade, dass sich Square Enix eine deutsche Lokalisation gespart hat – 2024 eigentlich ein Unding. Und als Rollenspiel-Kenner hätte ich auch zu einem cleveren Job/Klassen/Skill-System nicht Nein gesagt. Aber genug genörgelt. Direkt nach Dragon Quest III fesselt mich mit Fantasian ein weiteres rundenbasiertes RPG an die Konsole, das aufs Herrlichste modernen Komfort mit traditionellen Qualitäten verbindet. Besser kann 2024 für Rollenspieler der alten Schule nicht enden.
Kevin Pinhao meint: Na, das wurde aber auch Zeit! Lange mussten zahlreiche RPG-Enthusiasten neidisch Richtung Apple blicken, wenn es um das jüngste Werk von Final Fantasy-Papa Hironobu Sakaguchi ging. Nun befreit sich Mistwalkers herrlich nostalgisches und gleichermaßen erfrischendes Fantasian endlich aus seinen Apple-Arcade-Fesseln und das Warten hat sich gelohnt. Neo Dimension beschert einem ohnehin starken und diversen Jahr für J-RPGs einen stimmigen Abschluss, indem es sich vor Klassikern des Genres – die Sakaguchi immerhin maßgeblich mitgeprägt hat – verbeugt, ohne die Chance zu versäumen, altbewährten Systemen frischen Wind einzuhauchen. Von den liebevoll handgefertigten Dioramen über smarte Kniffe im rundenbasierten Kampfsystem bis hin zum cleveren Dimengeon-Feature – dass es sich bei diesem Projekt um eine Herzensangelegenheit handelt, ist sonnenklar. Da lässt dann auch verschmerzen, dass man dem Titel seine Mobile-Herkunft in diversen Aspekten anmerkt.
Wertung
9 spielbare Figuren
handgebaute Hintergründe
frei wählbare Kampfmusik
Einzigartig inszeniertes Rollenspiel der alten Schule, das gekonnt die Stärken klassischer PSone-Abenteuer mit modernem Spielkomfort verbindet.
Singleplayer83MultiplayerGrafikSound
