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Stellt Euch vor, Ihr verbringt einen feucht-fröhlichen Abend in Eurer Stammdiskothek. In den frühen Morgenstunden schlägt der Alkohol zurück und Ihr fühlt einen immer stärker werdenden Brechreiz. Panisch rennt Ihr zur Toilette, stolpert in die nächstbeste freie Kabine und übergebt Euch in die Kloschüssel. Würdet Ihr am nächsten Tag Euren Freunden erzählen ”Hey, gestern hab’ ich in der Disko in die Toilette gekotzt, das sah echt genial aus”? Wohl kaum! Wenn so etwas aber in einem Videospiel passiert, finden wir’s plötzlich cool – weil wir es davor in virtueller Form noch nie so intensiv erlebt haben. So geschehen in Namcos Breakdown für die erste Xbox: Bereits in den ersten Spielminuten verputzt Euer alter Ego einen Burger und muss sich wenig später in eine Toilettenschüssel erleichtern.
Nicht nur ich saß damals staunend vor der Glotze und dachte mir ’tolle Szene’, auch die Entwickler bei DICE waren mehr als beeindruckt von der Intensität des Ego-Abenteuers – schließlich nennen sie Breakdown neben der PSone-Hüpferei Jumping Flash! als Hauptinspirationsquelle für ihr bisher ambitioniertestes Projekt – Mirror’s Edge. Die Heldin des Spiels ist die rennende Botin Faith – ihr Job ist die eleganteste Art der Datenübermittlung seit Erfindung der E-Mail: Faith turnt, springt, flitzt, schlittert, kraxelt und hopst hauptberuflich über die Häuserdächer einer totalitär regierten Großstadt, um Informationen zu transportieren – die ’Blues’, so werden die Polizisten im Spiel genannt, sind ihr ärgster Feind. Doch die Hintergrundgeschichte hat Besseres mit der digitalen Schönheit vor: Gegen ihren Willen wird sie zum Staatsfeind Nummer eins – gehetzt von der ganzen Härte des Polizei-Apparates und stets auf der Suche nach Beweisen, die ihre Schwester von einem Mordverdacht freisprechen könnten.
”Du bist Faith und das sollst du niemals vergessen.” Die Entwickler setzen alles daran, dass Ihr Euch tatsächlich in die athletische Dame hineinversetzen könnt: Faith läuft langsam an, bei vollem Tempo verschwimmt der Bildschirmrand, ihre Hände pendeln links und rechts in Euer Blickfeld. Ihr hört ihren pumpenden Atem, hört ihre Schritte. Wenn Faith springt, seht Ihr das nach vorne ausgestreckte Bein, wenn sie in die Tiefe stürzt, rudern die Arme hektisch in der Luft – auf der vergeblichen Suche nach Halt.
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In den geschätzen 5-10% des Spiels, in denen Faith eine Waffe trägt, gleichen sich ihre Bewegungsmöglichkeiten denen eines normalen Ego-Shooter-Protagonisten an, dann seht Ihr plötzlich, mit welch groben Einschränkungen der Master Chief oder Gordon ’Wo sind meine Hände’ Freeman ihren Job verrichten. Denn Faiths Fähigkeiten gehen über die Jump’n’Run-Qualitäten anderer hüpfaffiner Ego-Helden wie Turok oder Samus Aran weit hinaus. Dank ihrer ’Runner Vision’ leuchten wichtige Level-Elemente rot auf, z.B. eine Absprungrampe, ein zum Sixaxis-Balance-Akt einladender Stahlträger oder eine rettende Fluchttür.
Ist keiner der roten Ankerpunkte zu sehen, hilft die Kreistaste: Das winzige Zielvisier im Zentrum Eures Blickfelds springt dann auf den Punkt des Levels, den Ihr erreichen müsst. Jetzt gilt es, Faiths turnerische Fähigkeiten einzusetzen: Wie der Perserprinz oder Altaïr aus Assassin’s Creed läuft Faith Wände hoch, hangelt an Vorsprüngen entlang, rutscht Rampen herab oder gleitet unter sich schließenden Toren durch. Das Kontrollschema ist einfach: ’Nach oben’-Aktionen wie Springen, eine Wand hinaufklettern und Hochziehen löst Ihr via L1-Taste aus, ’Nach unten’-Manöver wie Ducken, Rutschen und Loslassen per L2-Knopf. Komplizierter ist die Kombination der beiden Tasten (u.a. beim Drehsprung), nach einiger Zeit klappt aber auch das.
Stoßt Ihr auf Gegner, ist Faiths ’Reaction Time’ Gold wert: Verlangsamt auf Knopfdruck die Action, entwaffnet den Feind per Dreieck-Button und durchsiebt anschließend dessen Kollegen. Zum Glück trefft Ihr fast nie auf mehr als vier Feinde auf einmal, denn das Magazin einer erbeuteten Waffe ist schnell verbraucht; dann müsst Ihr die Knarren der Toten auflesen. Überdenkt den Einsatz der ’Reaction Time’ gut – erst nach einigen Sprints und Sprüngen ist sie wieder einsatzbereit.
Richtig anspruchsvoll und hektisch geht es zu, wenn Geschicklichkeit und Kampf kombiniert werden: In einem architektonisch verzwickten, mehrstöckigen Gebäude vor Gegnern türmen, Absprung- bzw. Kletterpunkte finden und mit der knappen Lebensleiste haushalten (Faith regeneriert sich selbstständig) – das treibt den Puls hoch. Bereitet Euch darauf vor, solche Passagen mehrmals zu bestreiten, die ersten Versuche dienen schon mal dem bloßen Erkunden des Fluchtweges.
Abseits des Story-Modus dürft Ihr in Time-Trial-Missionen einzelne Passagen und ganze Levels erneut besuchen, die Ghosts der Entwickler herausfordern oder Bestzeiten und Geister-Daten hoch- bzw. herunterladen. Freispielbare Artworks und der Soundtrack zum Anhören runden Mirror’s Edge-Paket ab.
Meinung
Mathias Schmid meint: Für mich ist Mirror’s Edge die längst überfällige Revolution des Jump’n’Run-Genres und das bis dato schönste 3D-Spiel in einem. Und damit mein Lieblingsspiel des Jahres. Bestes Spiel 2008 wird es aber nicht: Dazu ist der Missionsaufbau zu gleichförmig, der Story-Modus zu schnell durchgespielt und die Geschichte zu banal – da hilft das schreiberische Mitwirken von Terry Pratchetts Tochter nichts. Auch das an etlichen Stellen offenbar von Entwicklerseite eingeplante Nach-dem-Weg-Suchen, Draufgehen und Noch-fünfmal-Versuchen zeugt nicht gerade von modernem Spieldesign. Trotz dieser Schwächen versetzt mich Mirror’s Edge in einen Rausch: Das Artdesign und die perfekt gesetzen Farbtupfer des perlweißen Wunderwerks sind wegweisend. In Ego-Sicht an Stahlseilen durch Häuserschluchten zu rutschen oder über Zäune zu flanken, fühlt sich genial an. Das liegt natürlich auch an den griffigen Kontrollen: Elegante Manöver gehen locker von der Hand, die Grundsteuerung aus der Ich-Perspektive muss den Vergleich mit Größen wie Halo 3 nicht scheuen.
Michael Herde meint: Beim ersten Durchlauf und speziell in der ersten Hälfte des Spiels habe ich etliche Frustpassagen erlebt. Mit den Häschern im Nacken muss ich abhauen und auf Anhieb einen Ausweg finden. Das geht oft daneben und ich zerplatze auf dem Asphalt. Dank zahlreicher Checkpoints und kurzer Ladezeiten (<5 Sekunden) hält sich der Frust in Grenzen. Dennoch spiele ich Mirror’s Edge lieber in kurzen Häppchen. Ansonsten wäre mir das zweifelsohne frische Konzept zu eintönig. Habt Ihr die recht kurze Story erst einmal erledigt, motivieren die Time Trials um so mehr.
Wertung
kein Ballerspiel – Flucht ist Trumpf
rote Level-Elemente weisen den Weg
motivierender Time-Trial-Modus
Perfektes Design trifft auf innovatives Spielsystem – trotz eintöniger Missionsziele ein denkwürdiges Stück Software.
Singleplayer87MultiplayerGrafikSound