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Vertreibung und Migration. Ökologische Katastrophen. Waffenlieferungen. Was nach Tagesschau klingt, sind nur einige Themen, mit denen uns Avowed konfrontiert. Für das erste ”große” Projekt nach der Übernahme durch Microsoft im Jahr 2018 spielt das amerikanische Studio Obsidian seine Stärken gekonnt aus, schwächelt allerdings auch an bekannten Stellen. Welche das sind und ob das Action-Rollenspiel mehr ist als ein Fantasy-Fallout, klären wir im Test. Und der findet sich, wie Ihr bereits festgestellt haben dürftet, in unserer Download-Rubrik – solch eine Veröffentlichungsstrategie bei einem doch wichtigen und (noch?) exklusiven Titel unterstreicht die fortschreitende Abkehr von Datenträgern. Aber kommen wir zur eigentlichen Sache: dem Spiel.
In der Welt Eora angesiedelt, werden wir als Gesandter des Imperiums vom Kaiser in das Reich der Lebenden geschickt, um dem Ursprung der sogenannten ”Seelenseuche” auf den Grund zu gehen. Auf Grund läuft zunächst allerdings nur unser Schiff und wir erwachen am Strand des für uns fremden Landes – immerhin ohne den obligatorischen Gedächtnisverlust. Und so klischeebeladen ”Avowed” beginnt, so herrlich divers und spannend gestaltet es sich im weiteren Spielverlauf. Aber dazu später mehr.
Die Wahl des Gesandten ist nicht zufällig auf unser Alter Ego gefallen, handelt es sich bei uns doch um einen ”Gottähnlichen”, der bereits im Mutterleib mit außergewöhnlichen Fähigkeiten gesegnet worden ist.
Die genretypischen Fähigkeitenpunkte verteilen wir indes nach der Charaktererstellung in bekannten Kategorien wie Ausdauer, Verteidigung oder Magie. Auch eine Hintergrundgeschichte legen wir fest, durch die wir einzigartige Dialogoptionen erhalten. Auf eine Klasse sind wir nicht beschränkt und können Aktionen von Kämpfer, Waldläufer und Magier miteinander kombinieren – top.
Weniger Klasse besitzt hingegen die Spielwelt. Die präsentiert sich zwar bunt und fantasievoll und hat einige schicke Schauwerte zu bieten, ist allerdings nicht offen gestaltet. Stattdessen bereisen wir nach und nach vier größere Sandbox-Areale, deren Abläufe sich leider stets gleichen: Wir betreten ein neues Gebiet und müssen die nächstgrößte Stadt erreichen, in der wir Nebenaufträge annehmen oder die Geschichte vorantreiben können. Avowed wirkt dadurch sehr formelhaft – kein Vergleich zu neugierig machenden Welten, in denen die Stunden nur so dahinrinnen, wie sie zuletzt beispielsweise Dragon’s Dogma 2 bot.
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Anreize, die Welt zu erkunden, gibt es viel zu selten. Statt auf Rätsel stoßen wir immer wieder auf uninspiriertes Questdesign und unsichtbare Wände, die unseren Abenteuerdrang ausbremsen. Dass das Spiel auf das Verbessern vorhandener Waffen und Ausrüstung durch Ressourcen setzt und sich Levelaufstiege zäh gestalten, sorgt gerade in den ersten Stunden für ein unbefriedigendes Spielerlebnis.
Dem können die Kämpfe nur bedingt entgegenwirken. Zwar bieten diese ein wuchtiges Kampfgefühl und eine herrlich breite Auswahl an Waffen, geraten aber gerade gegen größere Gruppen oft chaotisch: Wuchtige Brocken kommen auf uns zugestürmt, während wir von Bogenschützen ins Visier genommen werden und Magier weitere Gegner heraufbeschwören. Unsere vier Begleiter, von denen stets zwei an unserer Seite agieren und befehligt werden können, sind dabei selten eine Hilfe. Da Gegner nicht mitleveln, haben uns diese bereits auf dem normalen Schwierigkeitsgrad ordentlich zugesetzt, sollten wir das Aufwerten unserer Ausrüstung einmal vernachlässigt haben. Im letzten Drittel wirkt das Geschehen etwas besser ausbalanciert.
Zugegeben: Bis hierhin klingt es, als wäre Avowed eine ziemliche Enttäuschung. Ist es aber nicht. Denn wie gesagt – so sehr Obsidian spielerisch schwächelt, so gekonnt spielt das Studio seine Stärken aus. Und die liegen im Erzählen interessanter, glaubwürdiger Geschichten, auf die wir mit unserem Handeln spürbar Einfluss nehmen können.
Vor schweren Themen und Entscheidungen schreckt Obsidian dabei nicht zurück, konfrontiert uns immer wieder mit den teils harten Konsequenzen unserer Handlungen und lässt uns diese überdenken. Wir haben uns in der Haut des Gottähnlichen von Beginn an angenehm unwohl gefühlt, unsere Motive hinterfragt – das weckte unsere Neugier. Themen und Situationen werden stets aus mehreren Perspektiven inszeniert und beleuchtet, auf schnöde Schwarz-Weiß-Malerei wird verzichtet. Bis zum Finale haderten wir mit unseren bis dahin getroffenen Entscheidungen und waren uns nicht sicher, ob diese zum gewünschten Ergebnis führen würden. Vermisst haben wir lediglich eine gewisse Leichtigkeit und den für das Studio typischen Humor. So schaffen es ein paar flapsige Dialogoptionen nicht, den ernsten Grundton des Titels aufzubrechen und wirken eher deplatziert.
Meinung & Wertung
Stefan Stöckmann meint: In Dragon Age: The Veilguard kämpft es sich besser. In Dragon’s Dogma 2 erkundet es sich besser. In Avowed gibt es aber eindeutig die besseren Geschichten. Entscheidungsmöglichkeiten wirken hier nicht aufgesetzt oder plump, sondern fühlen sich tatsächlich gewichtig an. Gleichzeitig sorgen diese für ein herrlich individuelles Spielerlebnis. Selten habe ich mich in einem vergleichbaren Titel so intensiv mit meinen Entscheidungen auseinandergesetzt. Dass das spielerische Gerüst mit der Erzählung nicht mithalten kann und oft im Mittelmaß dümpelt, verzeihe ich da gerne. Das gilt allerdings nicht für die fehlende Synchronisation: Dass Microsoft seinen internen Entwicklungen nicht per se eine deutsche Vertonung gönnt, ärgert mich spätestens seit Senua’s Saga: Hellblade II und stört mich auch im Fall von Avowed. Das macht Sony bei hauseigenen Spielen deutlich besser.
Obsidian bleibt seiner Linie treu: spielerisches RPG-Mittelmaß trifft auf hervorragende Erzählkunst.
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