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”Nein danke, kein Dessert für mich, ich muss für eine Quest ganz dringend strahlenkrank werden.“ ”Weiß eigentlich jemand, wie man die Power-Rüstung der stählernen Bruderschaft benutzt?“ ”Wie? Was? Kaffeepause? Argh! Brauche Ameisennektar. Muss Feuerameisen jagen!” Endzeitstimmung in einem Nürnberger Hotel. Aus (begründeter) Angst vor Raubkopierern verschickte Bethesda nicht wie üblich Muster von Fallout 3, sondern lud gut 20 Redakteure zum Test-Event in die alte Kaiserstadt. Was anfangs nach Stresszocken unter Zeitdruck klang, hatte einen überraschenden Nebeneffekt: Beim verstrahlten Informationsaustausch während der hektisch hinuntergeschlungenen Mahlzeiten erzählten viele Tester von ihrer ganz persönlichen Postapokalypse. Schnell wurde klar: Sobald Eure selbst kreierte Spielfigur nach ihrer Tutorial-Jugend blinzelnd aus dem Schleusentor des Bunkers 101 tritt, habt Ihr die totale Freiheit im Leben nach dem nuklearen Holocaust.
Obwohl Ihr stets ein nachvollziehbares Ziel vor Augen habt – anfangs ist dies die Suche nach Eurem aus dem Bunker geflohenen Vater –, könnt Ihr Euch auch Hals über Kopf in die prachtvoll verseuchte Wüste der ehemaligen US-Hauptstadt Washington DC stürzen. Sobald Ihr in der Ego-Perspektive aus dem Bauch Eurer Mutter gekrochen seid, übernehmt Ihr die Kontrolle: Seid Ihr ein Mann oder eine Frau? Wohlgeraten oder schiach? Gemein oder lieb? Warum seid Ihr SPECIAL? Spielt Ihr in der ersten oder der dritten Person? Wenn Ihr nach dem knapp 90-minütigen Bunkervorspiel die Flucht ins Ödland antretet, habt Ihr Euch ziemlich sicher auf die klassische Shooter-Perspektive festgelegt. Feuergefechte und die Interaktion mit der Umgebung gehen so besser von der Hand. Trotzdem tippt Ihr gerne ‘LT’ an, um den aktuellen Look Eures Bunkerbewohners zu prüfen. Der streift sich nämlich brav jede noch so kranke Haute Couture über, die Ihr von erlegten Bewohnern der Postapokalypse einsammelt: Menschenfressende Raider kleiden sich in bester ”Mad Max“-Manier und stehen auf Stacheln, Leder und Altmetall. Die technoiden Mitglieder der stählernen Bruderschaft stecken in feisten Power-Rüstungen und die Bewohner des Städtchens Megaton scheinen einen Altkleidercontainer mit Western-Kostümen gefunden zu haben.
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Das Sammeln und Neuverwerten von Objekten aus der Zeit vor dem Atomkrieg ist überhaupt das Konzept, welches die Welt von Fallout 3 zum Leben erweckt: Besagtes Megaton, die erste größere Siedlung des Spiels, wurde um eine scharfe Atombombe gebaut, die manche Bewohner kultisch verehren. Der Handel in Städten und mit herumziehenden Karawanen läuft nach bester Serientradition via Kronkorken. Vorkriegsgeld ist kaum etwas wert. Auch die detailreich heruntergekommenen Gebäude kennen Amerikaner aus ihrem täglichen Leben. Autobahnbrücken enden abrupt im Nirgendwo, das Naturkundemuseum wird von freundlichen Ghulen bewohnt und ein ausgedienter Flugzeugträger beherbergt eine Menschensiedlung. Glück auf, wenn Ihr in die finsteren Tunnel des zerstörten U-Bahn-Sys-tems hinabsteigt. Hier tummeln sich Monster aller Art und waten in absoluter Schwärze durch das radioaktiv verseuchte Grundwasser.
Über all dem Chaos thront die zerschossene Ruine des Washington Monument – sie dient einem subversiven Piratensender als Sendemast. Pikantes Detail: Heute gilt der Monolith patriotischen Amerikanern als Nationalsymbol und wird aus Angst vor Terrorangriffen ängstlich in Stahlbeton gehüllt. Wunderbar satirisch wirkt deswegen das von dort ausgestrahlte Galaxy-News-Radio, welches die reaktionären Präsidentenreden und zackige Marschmusik des ‘Enklave’-Senders mit flapsigen Sprüchen und Jazz kontrastiert.
Egal, ob Ihr schon früh auf die zum Hauptplot gehörende Episode um den Krieg der Radiosender stoßt oder erst einmal in diversen Neben-quests gegen Raiders, feuerspeiende Ameisen und deformierte Zentauren zu Felde zieht – Euer PIP-Boy 3000 am Handgelenk spielt unbekümmert das gewählte Radioprogramm und verleiht so selbst der wüstesten Metzelei eine ironische Note. Auch hier lässt Euch Fallout 3 die Wahl. Wenn Ihr die Berieselung ausschaltet, erklingen satt-düstere Cluster, die eher an die ersten beiden Serienteile erinnern. Qualitativ hochwertig und sogar in der deutschen Synchro überzeugend wirkt die Endzeit-Tonkulisse allemal.
Ebenfalls optional, jedoch gerade für Rollenspieler ohne Ego-Shooter-Erfahrung zu empfehlen, ist das ‘VATS’-Kampfsystem. Obwohl Ihr jede Schießerei und jeden Hieb einer Nahkampfwaffe auf Wunsch in Echtzeit ausführen könnt, tickt im Hintergrund die Rollenspielmechanik. So werden Schaden und Treffergenauigkeit auf Basis Eurer Charakterwerte und erlernten Extra-Fähigkeiten errechnet. In Standardgefechten bekommt Ihr davon allerdings wenig mit. Wäre da nicht die etwas umständliche Hot-Key-Belegung zum schnellen Waffentausch, Fallout 3 würde sich anfühlen wie ein traditioneller Ego-Shooter.
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Ein Super-GAU für Fans des alten Rundenkampfes? Mitnichten. Abhilfe schafft hier das bereits in frühen Previews demonstrierte VATS. Per ‘Vault-Tec Assisted Targeting System’ visiert Ihr Kopf, Rumpf oder Extremitäten Eurer Gegner an, bekommt die jeweilige Trefferwahrscheinlichkeit als Prozentwert angezeigt und reiht je nach AP-Stand mehrere Angriffe aneinander. Der nun folgende, hierzulande bereinigte Gewalt-Exzess (siehe Kasten) wird genüsslich in Zeitlupe zelebriert, wobei die Kameraperspektiven nicht immer glücklich gewählt scheinen. Gerade in engen Räumen seht Ihr so manches Mal faszinierende Studien von der Kniescheibe Eures Charakters. Sind Eure Aktionspunkte verbraucht, schaltet Fallout 3 zurück in den Echtzeit-Modus. Jetzt könnt Ihr, falls möglich, den Rückzug antreten und warten, bis sich Euer AP-Balken am unteren rechten Bildschirmeck wieder aufgeladen hat, oder Ihr stürzt Euch ins Ego-Gefecht. Im Spielverlauf werdet Ihr höchstwahrscheinlich auf eine Kombination aus beiden Systemen setzen.
Als am Ende des Testevents die Spielstände gelöscht wurden, hatte jeder zu wenig Zeit gehabt. Nicht um sich eine fundierte Meinung zu bilden, sondern um alles zu sehen. Selbstgebaute Waffen aus Brotzeitkisten und Kronkorken. Fahrende Händler, deren Waren und Währungsvorrat tatsächlich versiegen können und die sich eine von Euch verkaufte Rüstung selbst anziehen. Dogmeat, der treue Hund, der Euch bei der täglichen Suche nach knappen Ressourcen zur Seite steht. Die geniale Episode in einer schwarz-weißen Simulation des amerikanischen Kleinstadtlebens vor dem Fall der Bomben. Das Hacker-Minispiel, mit dem Ihr Zugriff auf dutzende witzige Dateien und Tagebucheinträge, z.B. über das Toi-lettenverhalten von Museumsmitarbeitern, erfahren könnt. Die teils schrillen Extra-Fähigkeiten von ‘Ladykiller’ für Extraschaden beim anderen Geschlecht bis zu ‘Kannibale’ zum Verspeisen von Leichen.
Nicht zu vergessen das Karma-System, das Euch schon, bevor Ihr einen der zahlreichen möglichen Abspänne seht, eine moralische Quittung für Euren Spielstil präsentiert. Kurz: Fallout 3 ist eine kreative Kernschmelze der Superlative und kann Euch für gut über 100 Stunden bestens unterhalten. Trotz kleinerer Mängel bei der Bedienung und Verbesserungspotenzial bei Gesichtern und der statischen Umgebung ist der Gesamteindruck atom-bombastisch. Viele kleine Geschichten fügen sich mit einer kernigen Ballerspielmechanik zu einem erfreulich erwachsenen RPG. Ein Lob gebührt Bethesda auch für die Übersetzung sämtlicher Texte und die Auswahl der deutschen Sprecher, die im Gegensatz zu Oblivion kaum zu wünschen übrig lassen.
Meinung
Max Wildgruber meint: Meine Furcht, Fallout 3 könnte unter Bethesdas Regie zu einem Oblivion-Abklatsch mit Gasmasken mutieren, war gottlob unbegründet. Nach fast zehn Jahren strahlt Teil 3 den gleichen radioaktiven Zynismus aus wie die legendären Interplay-Vorgänger. Wenn die Postapokalypse außerdem so gut aussieht, muss ich mir das mit dem Atomausstieg noch einmal überlegen! Dabei verkommen die liebevoll ruinierten Wahrzeichen der US-Hauptstadt nie zur hohlen Grafik-Posse: Wenn Ihr zur Spitze des durchlöcherten Washington Monument aufbrecht, um dort die Antenne des letzten freien Radiosenders zu reparieren, seid Ihr mittendrin in einer spielerisch packenden Politsatire. Besonders gelungen ist das an Survival-Shooter erinnernde Ressourcen-Management. Zwar motivieren auch klassisches Mutantenmetzeln und witzige Nebenquests zum Sammeln von Erfahrungspunkten. Der Kronkorkenhandel um die letzten Medikamente und Munitionsvorräte ist aber wirklich originell. Weniger gelungen finde ich das Item-Menü mit seinen Hot-Keys und die nicht optimierte Steuerung der Third-Person-Perspektive.
Wertung
gigantische Spielwelt mit optionaler Quicktravel-Funktion
Ego- oder Third-Person-Perspektive
sinnvolles Verhältnis von Hauptplot und zahlreichen Nebenquests
Epochales Endzeit-Rollenspiel mit zahllosen Details für wochenlanges Versinken in Postapokylpsia.
Singleplayer90MultiplayerGrafikSound