Seite 1
Ein Schwert ohne Schneide ist nutzlos, ein Schatten ohne Tiefe bedeutungslos. Der neue Teil der Hauptreihe tritt nach einigen Verschiebungen aus dem Nebel der Erwartungen hervor wie ein lauernder Samurai, der bereit ist, sich endlich zu beweisen. Doch gleicht das Abenteuer einer geschliffenen Klinge oder ist es eher eine stumpfe Replik alter Serienteile?
Der inzwischen 14. Ableger der Reihe versetzt Euch in das feudale Japan des 16. Jahrhunderts. Die Fürsten des Reichs streiten wie gierige Karpfen um dasselbe Stück Brot, was zu blutigen Schlachten führt. Doch einer erhebt sich wie die Morgensonne nach einer stürmischen Nacht: Der Daimyo Oda Nobunaga ist auf dem Weg, das Land zu einen und die Bürgerkriege durch taktisches Geschick und militärische Stärke ein für alle Mal zu beenden. Gleichzeitig tauchen die missionarischen Portugiesen in Japan auf, die auch die ersten Schusswaffen in die Region importieren. Im Spiel ist unter den Fremden zudem der dunkelhäutige Sklave Diogo, der zu Nobunagas treuem Samurai Yasuke wird.
Bis Ihr mehr über seinen Weg, geschweige denn seine Hintergrundgeschichte erfahrt, vergehen locker acht bis zehn Stunden, denn der mehrteilige Prolog wird von der Shinobi Naoe Fujibayashi dominiert. Beim Beschützen eines mysteriösen Kästchens wird ihr Vater von einer maskierten Truppe getötet – den 12 Onryo. Diese Ausgangslage dient als Antrieb für die eher pinselstrichdünne Rachestory. Relevanter sind die diversen kleinen Nebengeschichten auf dem Weg zu Euren Zielpersonen. Auch wenn nicht jede überzeugt, hat sich Ubisoft sichtlich um Grautöne bemüht, sodass Ihr hier häufiger als früher auf Intrigen, Wendungen und fehlgeleitete Ambitionen trefft. Die persönlichen Storys sind somit nachvollziehbarer als die abgenutzte Serienprämisse, dass die skrupellosen Templer mit harter Hand für Ordnung sorgen möchten.
Seite 2
Im Gegensatz zu unserer Preview-Session fällen wir im fertigen Spiel Entscheidungen, die spürbar nachhallen wie der Schrei eines Kranichs im Morgengrauen. Während sich Kleinigkeiten wie das gewählte Geschenk in einer Teezeremonie insbesondere auf Dialoge auswirken, könnt Ihr auch einige Ziele im Verlauf verschonen. Aber wie schon in der Preview-Fassung stoßen wir weiterhin auf Situationen, in denen uns eine Wahlmöglichkeit nur vorgegaukelt wird. Anders ausgedrückt: Die Entwickler geben Euch zwar die Klinge der Entscheidung in die Hand, stecken sie bei Bedarf aber im letzten Moment einfach zurück in die Scheide.
Eine Randnotiz: Auch die Gegenwarts-Geschichte rund um Abstergo und den Sickereffekt spielen ab und zu wieder eine Rolle. Erwartet aber nicht zu viel. Nach dem Startbildschirm werdet Ihr nur durch kurze Auftritte, eine sammelbare Shop-Währung und funkelnde Wände in den Finalschlachten daran erinnert, dass Ihr Euch offiziell in einer Simulation im Animus befindet.
Die zwei Charaktere, zwischen denen Ihr nach dem ersten Kapitel fast immer wechseln könnt, spielen sich dank anderer Bewegungsmuster und Waffen angenehm unterschiedlich. Jedoch gehört auch zur Wahrheit, dass es für die Wahl von Yasuke nur wenig Pro-Argumente gibt und sich die Figuren trotz gegensätzlicher Ansätze nicht wie Yin und Yang optimal ergänzen. Naoe fungiert als die klassische Meuchelmörderin, die mit dem Enterhaken allerdings ein fast schon übermächtiges Werkzeug führt. Mit dem schwingt Ihr Euch an Ästen über Mauern oder zieht Euch direkt an Dächern und Vorsprüngen hoch. Da Euch Feinde nicht auf dem Weg nach oben folgen, seid Ihr vor den meisten Gefahren sicher und die Taktik ”Durchrennen und verstecken” stellt sich im Test oft als erfolgreicher Alternativweg heraus. Da Naoe beim Erkunden flexibler, leiser und schneller agiert, ist sie die meiste Zeit Eure erste Wahl.
Yasuke ist hingegen der mächtige Kämpfer im Duo, der viel einstecken kann und noch härter austeilt. Wollt Ihr eine Festung in einen Friedhof verwandeln oder steht ein Bosskampf bevor, habt Ihr mit ihm vergleichsweise gute Karten – solange Ihr nur Krieger zwei Stufen über Eurem Level bekämpft. Theoretisch kann auch Yasuke die meisten Anhöhen erreichen, jedo ch steuert er sich in seiner dicken Rüstung deutlich schwerfälliger und Stealth-Kills sind auffälliger.
Seite 3
Damit gleichen seine Bewegungen eher denen eines tapsigen Pandas als einem lauernden Tiger. Immerhin ist es charmant, wenn er beim ikonischen Sprung in den Heuhaufen auf seinem Hintern landet. Aber abseits seiner Wehrhaftigkeit und dieser Humor-Einlagen gibt es nur Nachteile wie beispielsweise begehbare Seile, die unter seinem Gewicht reißen.
Da seine Attacken brutal und wuchtig sind, fühlen sich die Kämpfe mit Blocks, Paraden und Ausweichmanövern immerhin unheimlich spaßig an. Als wir mit Yasuke jedoch eine längere Zeit am Stück verbringen, fällt schnell auf, dass sich die Gefechte gegen die abwechslungsarmen Gegnertypen häufig ähneln wie Wellen, die stets gegen denselben Felsen schlagen. Am meisten Spielspaß habt Ihr also, wenn Ihr Euch nicht auf einen Spielstil fokussiert und die Helden regelmäßig wechselt.
Mit der neuesten Episode legt die Reihe die Fesseln der alten Konsolengeneration ab und macht auch bei der bereits in Mirage verwendeten Anvil-Engine einen Update-Sprung nach vorne. Spielerisch spürt Ihr das am ehesten an der Zerstörbarkeit der Spielwelt. Bambus, Keramik, Schiebetüren und Stoffe: Ein Großteil der Objekte geht nun bei Kämpfen zu Bruch und die Schnittstellen von Schwertattacken werden dabei korrekt abgebildet. Wenn Ihr in einem Häuserkampf mit Yasuke einem mächtigen Ronin einen kräftigen Tritt verpasst, der ihn durch mehrere Wände schleudert, dann ist das außerordentlich befriedigend.
Ein weiterer Fortschritt ist das neue Ray-Tracing-System, das für eine realistischere Licht- und Schattendarstellung sorgt. Für Schleichprofis ist dabei der Tageszeitenwechsel relevant, weil Ihr nachts schwerer zu entdecken seid. Da Ihr außerdem Lichtquellen umstoßen und zerstören könnt, ändern sich die Lichtstimmungen in Räumlichkeiten dynamisch. Lobenswert: Egal, welchen Grafik-Modus Ihr wählt – die Bildrate bleibt dabei nahezu immer konstant.
Mitunter sehr beeindruckend ist das dynamische Wettersystem – von Ubisoft ”Atmos” getauft. Stürme, strömender Regen oder Nebel geben der Ubisoft-typisch wunderschönen Spielwelt immer wieder einen neuen Anstrich. Besonders die Windsimulation hat es uns angetan. Wenn uns Kirschbaumblüten um die Ohren fliegen, während sich Äste und Grashalme verbiegen und Naoes Haare unruhig tanzen, dann fühlen wir uns mittendrin im Geschehen.
Seite 4
Als Geschmackssache empfinden wir den Aufbau der offenen Welt. Grundsätzlich ist hier Japan in neun weitläufige Areale eingeteilt. Ihr könnt die Welt zwar frei bereisen, da aber jedes Gebiet eine empfohlene Levelstufe hat und Ihr unterlevelt schneller draufgeht als eine Fliege im Spinnennetz, geben Euch die Entwickler indirekt eine Reihenfolge vor, in der Ihr die Gegenden bereisen solltet. Ebenso einschränkend fühlte sich für uns zu Beginn an, dass sehr viel Fläche mit dichten Wäldern und steilen Bergen daherkommt, weswegen Querfeldein-Ausflüge kaum möglich sind oder sich gar nicht erst lohnen. Häufig bleiben wir beim Versuch einfach nur im Dickicht stecken und müssen uns ruppig wieder befreien.
Ob es eine Menge zu entdecken gibt, hängt von Eurer Sichtweise ab, denn visuell werden hier wirklich sehr viele wunderschöne Landschaften, Dörfer und Sehenswürdigkeiten geboten. Wenn es schon in Red Dead Redemption 2 zu Euren Lieblingsaktivitäten gehörte, durch naturbelassene Landstriche zu reiten und die Atmosphäre einzusaugen, dann fühlt Ihr Euch im digitalen Japan gut aufgehoben.
Spannende Nebenaktivitäten sind jedoch fast so rar wie Schnee im Sommer. An Tempelanlagen erwarten Euch stets dieselben zwei Sammelaufgaben, die Ihr absolviert, um höhere Stufen im Levelbaum freizuschalten. Einsame Trainer und Meditierplätze kommen mit rhythmischen Minispielen daher. Ebenso gibt es natürlich die obligatorischen Aussichtsplattformen, die hier in Form von Türmen und herausragenden Bäumen auftauchen und Euch als Schnellreisepunkte dienen. Alternativ kauft Ihr Euch für die Schnellreise kleine Hütten in den Ortschaften.
Am meisten Freude hatten wir mit der Erkundung der seltenen Rätsel-Schatzhöhlen. Wer jetzt glaubt, dass es wenig zu tun gibt, der irrt. Neben einigen Nebenstorys mit neuen Freunden schaltet Ihr nämlich im Verlauf ein immer größer werdendes Todesbrett mit Gruppierungen wie korrupten Beamten frei, deren Mitglieder Ihr gezielt oder zufällig aufspüren könnt.
Zwar mag das Verhältnis von Schleichen und dem direkten Kampf nicht perfekt austariert sein und auch der Parkour-Aspekt spielt bei den meist flachen Dörfern nur noch geringfügig eine Rolle. Wer sich trotzdem auf die etwas reduzierte, aber umwerfend schicke Spielwelt mit ihren kleinen Geschichten einlässt, der wird mit einem der besten Serienteile seit Black Flag belohnt.
Meinung
Steffen Heller meint: Mein Spielerlebnis war ein Auf und Ab. Als ich mich an die vielen Eigenheiten gewöhnt hatte und ich nach den ersten acht Stunden mehr Freiheit verspürte, nahm das Abenteuer für mich endlich Fahrt auf. Doch es fehlte immer etwas. Die meisten Nebenaktivitäten sind mir spielerisch viel zu öde. Zusätzlich stecken im Spiel haufenweise tolle Schleichdetails wie das ständige Lichtspiel oder Jahreszeiten-Feinheiten wie herabfallende Eiszapfen, die Gegner aufmerksam werden lassen – für jedes vollwertige Schleichspiel eigentlich ein Traum! Da die Entwickler aber einen sehr offenen Ansatz verfolgen, der mich bei Chaos nicht bestraft, und Feinde bei der Verfolgung kletterfaul sind, gab es hier selten einen Grund, um überhaupt vorsichtig zu agieren. Das Kampfsystem bietet zwar gute Grundzüge und besonders als Yasuke fühle ich mich wunderbar mächtig, aber es fehlt die Geschmeidigkeit von Konkurrenten wie Ghost of Tsushima, sodass ich nach 20 Spielstunden nur noch für die schöne Spielwelt dableiben wollte.
Fabiola Günzl meint: Assassin’s Creed Shadows holte mich zwar erst nach ein paar Stunden ab – dann aber richtig. Die unterschiedlichen Spielstile von Yasuke und Naoe machen beide extrem Spaß, die Story fesselt und das virtuelle Japan sieht einfach bombastisch aus, auch wenn die Series X doch immer wieder mal unschön Texturen nachlädt. Natürlich gehören die typischen Macken der Reihe zum guten Ton und so fluche ich erneut vor mich hin, wenn mein Alter Ego nicht den gewünschten Weg nimmt, sondern eben wie der Ochs vorm Berg, der Mauer oder dem Baum steht. Das Basenbau-Feature – bei dem ich das Maximum an Akita-Welpen herausgeholt habe – und die zahlreichen Aufgaben, die mich dieses Mal nicht schon von Weitem anspringen, lassen mich aber ein Auge zudrücken, wenn ich deshalb schnell zu mächtig bin. Ein nicht perfektes, aber gelungenes Assassin’s Creed, das in seiner Charakter- und Weltgestaltung nicht mit Odyssey mithalten kann, spielerisch jedoch mehr Tiefgang und Abwechslung bietet als noch Valhalla. Auch die kompaktere Gesamtform gefällt mir und dementsprechend bin ich schon gespannt, ob Ubisoft nicht doch mehr Zusatzinhalte liefern wird als bisher angekündigt. Ich wäre jedenfalls bereit für weitere Stealth-Missionen!
Wertung
”Deluxe Edition”: hauptsächlich Skins und Deko für Euer Versteck – kein Season Pass
Ingame-Shop ignorierbar
Story-DLC ”Die Insel von Awaji” soll noch in diesem Jahr folgen
Die Präsentation setzt neue Serienmaßstäbe – Aspekte wie die genialen Stealth-Ansätze oder der Heldenwechsel könnten jedoch ausgefeilter sein.
Singleplayer85MultiplayerGrafikSound
