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Niko Bellic war gestern, Johnny Klebitz kann sein Bike in der Garage lassen. Der neueste Star des Grand Theft Auto-Universums hört auf den Namen Huang Lee und hat zwei brisante Aufgaben zu erledigen: das ihm geklaute Familienerbstück in der Ganovenwelt von Liberty City wiederfinden und beweisen, dass der DS-Ableger Chinatown Wars dem Ruf der Serie gerecht wird.
Wenn man eine große Ganovenwelt in ein kleines Modul stopfen will, sind Kompromisse unumgänglich: Die Handlung wird nicht in animierten Storysequenzen, sondern mit Cartoon-Bildern erzählt, die sich stilistisch an den serientypischen Cover-Illustrationen orientieren. Sprachausgabe gibt es nur in Form von Passanten-Ausrufen auf der Straße, die Hauptcharaktere verständigen sich per Untertitel. Der GTA IV-Schauplatz Liberty City blieb fast komplett erhalten, lediglich die westliche Nachbarstadt Alderney wurde gestrichen.
Die augenscheinlichste Änderung betrifft die Grafik: Euer Antiheld schlendert und fährt nicht in einer Third-Person-Ansicht durch Polygonwelten. Stattdessen betrachtet Ihr das Geschehen aus einer leicht schrägen Vogelperspektive, die an die Bitmap-Ursprünge der GTA-Serie erinnert. Personen und Fahrzeuge sind nur klein zu sehen, schwarze Konturen ähnlich wie beim Cel-Shading-Stil sorgen für eine eigene Note. Das mag für verwöhnte HD-Zocker altbacken wirken, in Bewegung offenbart sich schnell der Charme dieser Lösung: Wenn viele Passanten herumwuseln und daneben Autos durch die Straßen rollen, wirkt Liberty City genauso lebendig wie auf den großen Konsolen. Die einzelnen Stadtteile unterscheiden sich subtil und entwickeln einen eigenen Charakter, viele Details besorgen den Rest: So flattern Zettel aus umgestoßenen Mülltonnen über den Asphalt, bei Regen spannen Fußgänger kleine Schirme auf, unabhängig von Euren Aktionen agieren Einwohner etwa bei Unfällen miteinander.
Die meiste Zeit setzt Chinatown Wars auf traditionelle Steuerung mit Richtungskreuz und Tasten. Steigt Ihr in ein Auto, lässt sich eine Lenkhilfe zuschalten, die das Vehikel stabilisiert. Zur Orientierung hilft der auf den unteren Bildschirm ausgelagerte Radarschirm sowie ein Navigationssystem, das auf Wunsch den Weg zum Zielort mit farbigen Pfeilen auf dem Asphalt markiert. Den Touchscreen braucht Ihr nur bei sparsam eingestreuten Mini-Aufgaben, wenn Ihr etwa Autos knackt oder die Wurfrichtung einer Handgranate bestimmt.
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Auf den Straßen ist einiges los, was bei unvorsichtigem Verhalten die Polizei auf den Plan ruft: Fußgänger dürft Ihr kurioserweise straflos überrollen, auch Rempeleien mit zivilen Fahrzeugen sind den Gesetzeshütern egal. Touchiert Ihr dagegen einen Streifenwagen, wird sofort die hartnäckige Verfolgung ausgerufen. Anders als bei den großen GTAs habt Ihr zum Abschütteln der Ordnungshüter die Option, aktiv den Fahndungsstatus zu beeinflussen: Sorgt Ihr dafür, dass die Cops bei Unfällen ihre Autos demolieren, reduziert Ihr die Suchintensität.
Viele Missionen erfüllt Ihr nur, wenn Ihr das Vehikel verlasst. Um gegen aggressive Rivalen und Feinde zu bestehen, packt Ihr jede Menge Bleispritzen aus. Markierungen weisen auf Kontrahenten hin, per Schultertaste schaltet Ihr die automatische Zielerfassung durch. Problematisch wird das an sich handliche System lediglich, wenn viele Angreifer aus verschiedenen Richtungen kommen. Dann ist schwer vorhersehbar, welcher Feind wohl als Nächstes anvisiert wird.
Trotz der niedlich wirkenden Optik bleibt Gewalt nicht aus: Wenn ein kleiner Ganove erschossen wird, bilden sich Blutlachen. Fängt ein Passant Feuer, flüchtet er als lebende Fackel wild gestikulierend und schreiend. Sogar die bislang in Deutschland verpönten ’Sonderaufträge’ findet Ihr, bei denen Ihr z.B. innerhalb eines Zeitlimits eine Mindestzahl an Menschen mit der Kettensäge auslöscht. Weniger plakativ, aber genauso unmoralisch ist die wichtigste Nebenbeschäftigung: Seid Ihr nicht mit einem Auftrag beschäftigt, spürt Ihr in der ganzen Stadt Dealer auf und handelt mit verschiedenen Rauschmitteln. Durch Hinweise erfahrt Ihr, wo gerade was besonders billig oder teuer ist. So macht Ihr im Handumdrehen Kasse – außer Ihr werdet bei einem Deal geschnappt.
Die Drogentipps trudeln auf Eurem PDA ein, den Ihr per Touchscreen-Tipper aufruft. Das mobile Gerät ist ein ständiger und wertvoller Begleiter, der viele wichtige Funktionen abdeckt. Neben der Verwaltung Eurer Kontakte ordert Ihr per Internet Waffenlieferungen, studiert Stadtpläne mit Standorten, seht Statistiken ein oder aktiviert das GPS.
Auch die Mehrspieler-Optionen sind hier verankert: Mit einem Ganovenkumpel (der ein eigenes Modul haben muss) tretet Ihr zu Autorennen an oder verteidigt gemeinsam das Revier vor Eindringlingen. Per Internet ist kein Spiel möglich, dafür ladet Ihr Eure Daten auf die Rockstar-Webseite und tauscht Nachrichten oder Gegenstände aus.
Ob Huangs anfangs genannte Aufgaben erfolgreich erfüllt werden, können wir zur Hälfte bereits jetzt sagen: Die Suche nach dem Erbstück hängt vom Geschick des Spielers ab – dem guten Ruf von Grand Theft Auto macht Chinatown Wars auf jeden Fall alle Ehre.
Meinung
Ulrich Steppberger meint: Chinatown Wars nimmt gekonnt fast alle Hürden, die ein DS-GTA stellt. Die entfernte Ansicht funktioniert tadellos, das mobile Liberty City fühlt sich wie eine lebendige Stadt an und überzeugt mit einem feinen Grafikstil. Die Missionen gefallen mir so gut wie bei Grand Theft Auto IV, auch weil der Touchscreen immer wieder für witzige Einlagen genutzt wird. Die Steuerung klappt prima, nur in wilden Schusswechseln kämpft Ihr hin und wieder mit der zickigen Zielerfassung. Die begrenzte Fernsicht bei schnellen Autofahrten ist verschmerzbar, nerviger finde ich die etwas übertriebene und effektive Polizeipräsenz. Diese kleinen Störfaktoren beeinträchtigen das tolle Spielgefühl aber kaum – Chinatown Wars ist das erhoffte Epos für die Hosentasche geworden.
Wertung
Fast-Vogelperspektive als Ansicht
Schauplatz Liberty City aus ”GTA IV”
PDA für alle möglichen Funktionen nutzbar
Styluskontrolle für Mini-Aufgaben gelungen
jede Menge Nebenbeschäftigungen
Tolle Umsetzung des Gangsterepos ins Handheldformat, die mit eigenem Grafikstil gefällt und (fast) alle Stärken beibehält.
Singleplayer90MultiplayerGrafikSound
