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Als Clair Obscur vor nicht mal einem Jahr das erste Mal gezeigt wurde, war das Staunen groß. Nicht nur die Optik an sich, auch die Gefechte und die darin angedeuteten Mechaniken erweckten den Anschein, dass sich Rollenspiel-Schwergewichte wie Final Fantasy und Persona auf einen ernst zu nehmenden Rivalen gefasst machen müssten. Trotzdem erschien eine gewisse Skepsis angebracht, schließlich handelte es sich um das Debütwerk eines bis dahin unbekannten, ursprünglich 30 Köpfe starken Entwicklerteams. Gut vorstellbar also, dass sich das Studio mit seinen hochgesteckten Ambitionen womöglich verhoben haben könnte.
Nachdem wir uns nun auf die Expedition 33 begeben haben, lässt sich erfreulicherweise Entwarnung geben: Das fertige Epos bestätigt die faszinierenden Ersteindrücke bis auf kleine Aspekte nahezu auf ganzer Linie. Schon der Einstieg holt gekonnt mit einer interessanten Prämisse und charismatischen Charakteren ab: In einer von der französischen Belle Époque rund um die Wende zum 20. Jahrhundert inspirierten Welt zeichnet die mysteriöse ”Malerin” jedes Jahr eine stets niedrigere Nummer auf einen Monolithen, woraufhin alle Menschen dieses Alters in der ”Gommage” verschwinden. Von der kleinen Insel Lumière aus stechen deshalb wagemutige Truppen in See, um ihr das Handwerk zu legen. Doch nach einem Desaster direkt zu Beginn der Erkundung bleiben nur wenige Mitglieder am Leben, die aber nicht aufgeben.
So beginnt das eigentliche Abenteuer, in dem wir mal bunte und mal düstere, aber stets visuell eindrucksvoll in Szene gesetzte Areale bereisen, die durch eine ebenfalls begehbare Oberwelt verbunden sind. In Ersteren haben die Entwickler auf Minikarten oder Wegmarkierungen verzichtet, was trotz überschaubarer Umgebungsgrößen durchaus dazu führen kann, dass Ihr Euch auf dem Weg zum (gerne mal nur vage beschriebenen) Missionsziel etwas verzettelt. Das ist nicht ideal, aber erfreulicherweise der einzige wirklich nennenswerte Kritikpunkt, zumal man sich daran wie auch an ein paar nicht ganz so übersichtlich geratene Menüstrukturen schon gewöhnen kann.
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Kaum Wünsche offen lässt das Kampfsystem, mit dem Ihr Euch zur Wehr setzt, wenn Ihr auf feindselige Gestalten trefft. Maximal drei Mitglieder Eurer Truppe stehen den Kontrahenten dann in rundenbasierten Gefechten gegenüber, die aber alles andere als gemächlich und entspannt ablaufen – nicht zu Unrecht werden sie von den Machern als ”reaktiv” bezeichnet. Seid Ihr selbst am Zug, könnt Ihr neben den normalen Attacken der ausgerüsteten Waffe auch Schüsse abgeben und dabei per Zielkreuz etwa Schwachstellen des Gegenübers anvisieren. Oder Ihr setzt besondere Fertigkeiten ein, die je nach Charakter deutlich unterschiedlich ausfallen und quasi noch mal ein System im System darstellen. Gustave etwa füllt so seine ”Überladen”-Anzeige auf, um eine besonders verheerende Aktion nutzen zu können, während Lunes Magie verschiedene Elementarpigmente erzeugt, die sich wechselseitig verstärken, und die Wirkung von Maelles Fechtangriffen wird je nach Körperhaltung beeinflusst.
Sich in diese Feinheiten einzuarbeiten, bedarf etwas Aufwand, dann entfalten sich aber jede Menge reizvoller Interaktionsmöglichkeiten. Allen Akteuren gemeinsam ist zudem, dass diese Offensivaktionen durch reaktionsbasierte Knopfdrücke noch verstärkt werden können. Und auch in der Defensive sind flinke Finger Pflicht, denn Angriffe der Kontrahenten wollen geschickt vermieden oder im Idealfall pariert werden, da Letzteres wirkungsvolle Konter einleitet – dass Sekiro eine Inspirationsquelle für das Entwicklerteam war, ist da keine Überraschung. Und nicht zu vernachlässigen sind schließlich Pictos und Lumina: Dahinter stecken ein durchdachtes System ausrüstbarer Perks, die Ihr oft erst in der Welt finden und bei Gefechten ”erlernen” müsst, damit sie dann alle Mitstreiter auch nutzen können – was sich lohnt, denn das macht Eure Truppe bei kluger Nutzung erheblich wirkungsvoller oder widerstandsfähiger.
Klar also letztlich, dass der Schwerpunkt bei Clair Obscur auf dem Kampfgeschehen liegt. Doch der Rest gibt sich keine Blöße und sorgt für ein großartiges Erlebnis, das den Vergleich mit etablierten Genregrößen wahrlich nicht scheuen muss.
Meinung
Ulrich Steppberger meint: UDurchweg verzückt wie Kevin hat mich Expedition 33 zwar nicht, im Kern stimme ich aber zu: Was die Entwickler hier auf die Beine gestellt haben, spielt ganz vorne mit in seinem Genre. Daran hat die tolle audiovisuelle Inszenierung, die zumindest auf einer PS5 Pro auch nie ins Stottern kommt, einen gewichtigen Anteil. Der Star ist aber das Kampfsystem: Mit seiner Vielzahl an Details und der starken Gewichtung der Echtzeitelemente ist es fordernd und reizvoll zugleich und zaubert spektakuläre Aktionen auf den Bildschirm. Ein bisschen weniger Einstellfummelei gerade bei Lumina und Pictos hätten mich zwar nicht gestört, aber dafür liefern sie eben auch eine Menge Anpassungsmöglichkeiten. Dass die Macher für die Erkundung der Schauplätze nicht wenigstens optionale Navigationshilfen eingebaut haben, ist ein unnötiges Eigentor, aber es schadet dem Spektakel zum Glück nur wenig.
Kevin Pinhao meint: Ich habe mich im Vorfeld bereits auf Clair Obscur gefreut. Dass es sich so leichtfüßig an die Spitze meiner bisherigen ”Game of the Year”-Liste hochschwingen würde, kam dann aber doch unerwartet. Sandfall Interactive liefert nicht nur ein mächtig beeindruckendes Debüt, sondern ebenso eine leidenschaftliche Liebeserklärung an das (J-)RPG-Genre. Ein Herzensprojekt, das sich vor manch einer Größe des Genres verbeugt, ohne je zu versäumen, sein eigenes, rührendes Lied zu singen. Von seiner erstklassigen Präsentation über das elektrisierende Kampfsystem bis zur einnehmenden Handlung hielt mich das Abenteuer bis zum Ende (und darüber hinaus) in seinem Bann. Clair Obscur bringt mit seiner Symbiose aus altbewährten RPG-Elementen und moderner Energie frischen Wind in einen Genre-Zweig, der heute allenfalls noch von Atlus’ Persona-Serie und Neuauflagen klassischer Marken geschultert wird. Ich bin jedenfalls mächtig angetan und gespannt, welches Projekt dieses talentierte Team als Nächstes in Angriff nimmt.
Wertung
französische Herkunft unverkennbar
Story mit überraschenden Enthüllungen
jeder Charakter mit spezifischen Kampfaktionen
umfassendes Perk-System
Grandios inszeniertes Rollenspiel-Epos mit unverbrauchtem Stil und einem Kampfsystem, das Rundentaktik und Reaktion intelligent kreuzt.
Singleplayer90MultiplayerGrafikSound
