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Egal, wo man hinschaut – jeder kramt die angestaubten Klassiker aus der Mottenkiste und bringt sie ein zweites Mal gewinnbringend unters Volk. So schlägt die Filmindustrie Kapital aus Remakes zu ”King Kong” und ”Godzilla”, die Musikindustrie hält die “Eternal Flame“ durch regelmäßigen Cover-Nachschub am Lodern und die Automobilindustrie schickt Klassiker wie Käfer und Mini erneut ins Rennen. Selbst das Friseur-Metier preist die Retro-Matte Vokuhila als den letzten Schrei an. Nur eine Branche scheint sich da herauszunehmen: die Videospielindustrie. Abgesehen von Resident Evil für den GameCube sind echte Remakes Mangelware.
Woran liegt’s? Nun, betrachtet man die angeführten Beispiele, stößt man schnell auf eine Gemeinsamkeit: Zwischen Original-Produkt und Neuauflage liegen mehr als zehn Jahre. Eine Art ungeschriebenes Gesetz also! Und plötzlich ist klar, warum die Software-Schmieden bislang so zurückhaltend waren: Die potenziellen Spiele, die diese Zeitspanne einhalten, sind zu 99 Prozent 2D-Spiele. Und die eignen sich eben nicht sonderlich gut, um in 3D-Optik erneut über den Bildschirm zu flimmern. Doch mittlerweile haben auch Polygon-Schleudern wie Saturn und PSone über elf Jahre auf dem Buckel; die Recycling-Lawine könnte also langsam ins Rollen kommen.Und siehe da: Mit Anniversary erscheint ein Remake des kultigen Action-Adventures, das 1996 zuerst für den Saturn und wenig später für die PlayStation erschien: Tomb Raider.
Um es vorweg zu nehmen: Das Croft’sche Abenteuer wurde nicht nur optisch generalüberholt, sondern auch spielerisch einer Frischzellenkur unterzogen – doch dazu später mehr. Gleich geblieben ist die Hintergrundgeschichte und der grobe Spielablauf: Auf der Suche nach einem mächtigen Artefakt durchforstet Ihr z.B. eisige Katakomben in Peru, turnt durch eindrucksvolle Griechenland-Kulissen und erkundet mythische Tempelanlagen in Ägypten.
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Das geht in den meisten Fällen folgendermaßen von statten: Zunächst einmal kommt Ihr in einen riesigen Raum, den Ihr genauer unter die Archäologen-Lupe nehmt. Aber Achtung, hier wimmelt es nur so vor Gefahren! Bedrohung Nummer eins: Ihr bleibt wie angewurzelt erst einmal mehrere Minuten stehen, um die eindrucksvolle Kulisse – und die imposanten Rundungen von Frau Croft – zu inspizieren. Doch die exzessive Begutachtung wird durch Bedrohung Nummer zwei jäh unterbrochen: Mit einem ohrenbetäubenden Gebrüll kündigen sich drei aufgebrachte Gorillas an.
Wer jetzt mit den Augen rollt und meint, die Kämpfe würden wieder so belanglos ausfallen wie in Tomb Raider: Legend, irrt. Die Ballereien mit den fast ausschließlich tierischen Kontrahenten werden jetzt wesentlich gezielter eingesetzt und sind obendrein packender inszeniert. Dafür sorgt nicht zuletzt die neue Adrenalin-Funktion: Schießt die Vierbeiner ein paar Mal an und sie sprinten wutentbrannt auf Euch zu. Wenn Ihr nun im richtigen Moment einen Satz zur Seite macht, wird die Zeit verlangsamt und Ihr könnt dem Viehzeug mit nur einem Schuss den Garaus machen – vorausgesetzt, Ihr drückt zum richtigen Moment ab. Gelungene Neuerung! Bei aller Lobhudelei wollen wir aber nicht verschweigen, dass wir bei vereinzelten Gefechten nicht in erster Linie mit dem Feind zu kämpfen hatten, sondern mit ungünstigen Kameraperspektiven und ”Verdammt, lass mich doch erst aufstehen, bevor du wieder angreifst“-Situationen.
Nachdem Ihr den Primaten die Felle über die Ohren gezogen habt, stoßt Ihr auf vier Vertiefungen in der Wand. Was Ihr zu tun habt, ist klar (immerhin habt Ihr vorher schon Räume nach demselben Prinzip passiert): Findet die passenden Objekte und öffnet so das Tor zum nächsten Gewölbe. Das alles klingt wahnsinnig routiniert – ist es zum Teil auch. Was aber immer wieder motiviert und aufs Neue verblüfft, ist das geniale Leveldesign.
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Die Crystal-Dynamics-Entwickler sorgen dafür, dass Eure Klettereien nie langweilig werden: Mal hangelt Ihr Euch an schmalen Felsvorsprüngen entlang und wagt riskante Sprünge von Klippe zu Klippe, dann schwingt Ihr Euch an einem Seil über schwindelerregende Höhen oder balanciert auf schmalen Säulen über Lavaströme. Immer griffbereit haltet Ihr dabei Euren Enterhaken, dessen Einsatzgebiet im Vergleich zu Tomb Raider: Legend erweitert wurde: Verankert das praktische Utensil an einem Haken, und Ihr könnt – ähnlich dem persischen Prinzen – an der Wand entlang laufen. Apropos Legend: Zwar wurden Steuerung und Spielablauf fast 1:1 übernommen, dafür ist Anniversary dem Vorgänger in Sachen Grafik, Musik, Komplexität, Umfang (ca. 15 Stunden) um ein Vielfaches überlegen.
Kletter-Novizen seien gewarnt: Auch der Schwierigkeitsgrad hat deutlich angezogen. Sowohl die vertrackten (jedoch stets logischen) Rätsel als auch die teils haarigen Geschicklichkeitseinlagen stellen Eure Geduld gelegentlich auf die Probe. Dafür waren die Entwickler großzügig mit Checkpoints – nervig nur, dass Ihr nach jedem Ableben mit (immerhin kurzen) Ladepausen gequält werdet.
Abgerundet wird das exquisite Abenteuer-Paket mit allerlei Goodies, die Ihr durch das Aufspüren von gut versteckten Reliquien und Artefakten freischaltet (siehe Infokasten auf der vorigen Seite). Bleibt noch die Frage, ob wir Tomb Raider: Anniversary auch Kennern des Originals ans Herz legen? Ganz klar: ja! Denn zum einen steuert sich die attraktive Archäologin nun wesentlich dynamischer, zum anderen erforscht Ihr komplett umgekrempelte bzw. erweiterte Welten. Während Ihr im Original z.B. eine Brücke unbeschadet überqueren konntet, bricht selbige in der Neuauflage zusammen und sorgt für einen gehörigen Schreck. Klasse! Geschmackssache sind dagegen die neuen Quick-Time-Events, die aber schön in Szene gesetzt wurden und ohnehin nur sehr selten anzutreffen sind.
Meinung
André Kazmaier meint: Größer, schöner, besser – Miss Crofts letzte PS2-Exkursion holt noch mal alles aus der betagten Machine heraus. Mir hat zwar schon die Legend-Episode gut gefallen, aber Anniversary toppt diese mit Leichtigkeit: Die wenigen Actioneinlagen haben jetzt endlich Daseinsberechtigung und die Klettereien sind spielerisch nahezu perfekt. Leider nur nahezu: Weil man gelegentlich nicht erkennt, wo es weitergeht oder Zeitlimits arg knapp bemessen sind, stürzt die sexy Archäologin öfter in die Tiefe, als einem recht sein kann – hier habe ich die Rückspulfunktion aus Prince of Persia schmerzlich vermisst. Ansonsten kann ich Tomb Raider: Anniversary nur jedem ans Herz legen – vor allem Fans des persischen Prinzen.
Ulrich Steppberger meint: Alles Gute zum Geburtstag, Lara. Du bist zwar, ganz ladylike, etwas spät dran mit Deinem Jubiläum, doch das Warten hat sich gelohnt: Besser als Tomb Raider: Anniversary”kann ich mir das Update eines (neuzeitlichen) Klassikers fast nicht vorstellen. Die Grafik-Engine bringt die imposanten Umgebungen flüssig auf den Schirm, die Legend-Steuerung funktioniert tadellos und macht das ganz schön knifflige Erkunden der Levels noch spaßiger. Geballert wird zum Glück wenig, denn die fordernden Kletterpassagen machen das Abenteuer erst zum Erlebnis. Außerdem stimmen im Vergleich zu Legend Herausforderung und vor allem Umfang – wer sich dieses Tomb Raider entgehen lässt, verpasst den Höhepunkt der Serie.
Wertung
”Tomb Raider”-Neuauflage mit erweiterten bzw. überarbeiteten Levels
wesentlich länger als ”Legend”
wieder mit dabei: das mit Rätseln gespickte Croft-Manor
Boni: neue Outfits, Audio-Kommentare, Soundtracks und vieles mehr
Tolle Spielbarkeit, pompöse Levels und geniales Leveldesign: klar das beste PS2-”Tomb Raider” – wenn auch stellenweise frustig.
Singleplayer87MultiplayerGrafikSound
