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Der 29. April 2008 – Tag des Jahres? Für die Videospielewelt schon, denn an diesem Dienstag erschien Grand Theft Auto IV. Rockstars lange erwartetes Epos pulverisierte prompt mit schlappen sechs Millionen verkauften Exemplaren in der ersten Woche sämtliche Rekorde. Allerdings ist es der erste Teil der Serie, der das eigentliche Veröffentlichungsdatum (ursprünglich hätte er am 18. Oktober 2007 in den Regalen stehen sollen) verpasst hat – ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?
Für uns MAN!ACs gilt Letzteres – wegen Rockstars notorischer Geheimniskrämerei war klar, dass es der GTA IV-Test nicht in die letzte Ausgabe schaffen würde. Denn bei den Entwicklern gilt: Je wichtiger der Titel, desto eher wird erst eine fertige Verkaufsversion an die Magazine versendet. Wenn dann schon Tage vorher eine Raubkopie durchs Internet fliegt, aber der zuständige Redakteur immer noch warten muss, wird’s erst recht ärgerlich. Oft ist ein solches Herstellergebaren ein Warnsignal für mangelnde Produktqualität, doch erfreulicherweise gibt es in der Hinsicht nichts zu meckern: Grand Theft Auto IV hält, was es versprochen hat.
Was die Entwickler mit den Abenteuern des Immigranten Niko Bellic in der unverkennbar am echten New York angelehnten Metropole abgeliefert haben, sucht seinesgleichen. Okay, geografisch betrachtet war der Vorgänger San Andreas größer – doch weniger Quantität heißt eben nicht automatisch Qualitätsverlust. Auch die dort eingeführten Rollenspiel-Elemente mit verbesserbaren Charakterwerten wurden gekippt – die vermisst man aber ebenso wenig.
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”Grand Theft Auto IV” kehrt also etwas mehr zu seinen Wurzeln zurück (Liberty City war auch im richtungsweisenden dritten Teil der Schauplatz), ergänzt diese aber an allen Ecken und Enden mit Einfällen und Neuerungen, die von lange überfällig bis umwerfend reichen. Dabei waren sich die Macher nicht zu schade, sinnvolle Errungenschaften der Konkurrenz zu übernehmen: So gab es die Navigationsfunktion, mit der Ihr bei Autofahrten bequem zum Zielort gelotst werdet, in noch nicht so ausgefeilter Form bei ”Saints Row”. Das neue Fahndungssystem, das für mehr Spannungsmomente und zugleich realistischere Fluchtmöglichkeiten sorgt, weil Ihr den Wirkungskreis der Polizeikräfte erkennen könnt, verdankt seine Geburt unverkennbar ”Scarface”.
Allzu viel hat sich am gewohnten Grand Theft Auto-Konzept nicht geändert, doch kann man daraus einen Vorwurf ableiten? Wir denken nicht, denn von einer so erfolgreichen Serie deutliche Änderungen zu fordern, erscheint widersinnig – bei einem Gran Turismo käme schließlich auch niemand auf die Idee, daraus ein Offroad-Rennspiel machen zu wollen. Grand Theft Auto IV strickte an der Optimierung des Bekannten, und wieder gelang ein großer Schritt nach vorne. So lebendig war noch keine Videospiel-Stadt, kein anderer Grand Theft Auto-Protagonist ist so glaubwürdig und realistisch wie Niko Bellic. Einen großen Anteil daran trägt seine Umwelt und was er so alles anstellen kann: Lümmelt in Eurer Wohnung herum und lasst Euch vom schrägen TV-Programm in der Glotze berieseln. Lauscht den 19 Radiosendern mit Musik für jeden Geschmack und teils prominenten DJs. Geht im Internet-Cafe online und klickt Euch durch zahllose skurrile Webseiten. Verbringt Eure Zeit mit Bowling, Dart oder Billard. Besucht das Kabarett und lasst Euch von Magiern und Jongleuren unterhalten. Gönnt Euch im Stripclub einen erotischen Lapdance oder schiebt eine Nummer mit einer Bordsteinschwalbe.
Oder kümmert Euch per Mobiltelefon um Freunde und Liebschaften, die Ihr im Lauf des Spiels kennen lernt: Potenzielle Freundinnen wollen feiner ausgeführt werden, während männliche Bekanntschaften nichts gegen handfestere Ausflüge haben. Dazu gehören illegale Straßenrennen ebenso wie Boots- und Helikoptertouren und Saufgelage samt originellem Suff-Grafikeffekt.
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Angesichts dieser reichhaltigen Nebenbeschäftigungen muss sich die Haupthandlung erst mal behaupten, doch auch das ist geglückt: Zwar beschränken sich Missionen schon mal auf Standardschemata wie ’Fahre dorthin’ oder ’Töte Person sowieso’. Doch zum einen sind sie in eine gelungene Story integriert, zum anderen wurden einige berüchtigte Probleme der Vorgänger zumindest verbessert. So müsst Ihr nicht jeden Weg in Echtzeit bewältigen – ruft einfach ein Taxi und lasst Euch per Sofort-Transfer abliefern. Scheitert Ihr jedoch, geht’s fast immer wieder von vorne los: Gegen Checkpoints haben die GTA-Macher immer noch was, dafür könnt Ihr wenigstens sofort via Handy zum Missionsbeginn zurück und behaltet beim Ableben sämtliche Wummen. Apropos Waffen: Bei Feuergefechten funktioniert die automatische Zielerfassung nun deutlich besser und Ihr geht dank neuer Deckungsmechanik (Uncharted & Co. lassen grüßen) spürbar defensiver in Gefechte.
Grand Theft Auto IV ist nicht perfekt: Hin und wieder verhalten sich die CPU-Bewohner der Stadt wenig intelligent und die Steuerung ist etwas hakelig. Die rundum ansehnliche Grafik kommt nicht ohne Ruckler oder bekannte Symptome wie Clipping-Fehler oder Pop-Ups aus, die sind aber seltener und weniger störend als früher. Darüber kann und sollte man angesichts der epischen Spielwelt mit all ihren Möglichkeiten aber einfach hinwegsehen, denn Grand Theft Auto IV ist ein echtes Erlebnis und definiert das ’Sandkasten’-Genre ein weiteres Mal neu.
Bleibt die Frage, wie sich Xbox-360- und PS3-Fassung unterscheiden: Grafisch gibt es hier und da kleine Unterschiede, doch die fallen unserer Ansicht nach unter die Kategorie ’Geschmackssache’ und sind Details, die ohne Direktvergleich kaum auffallen. Auf der PS3 landen beim ersten Start zwingend 3,3 GB Daten auf der Festplatte, außerdem wird die Motion-Sensor-Funktion u.a. für diverse Fahrzeuge unterstützt, was aber eher nervt (und abstellbar ist). Das große Ding auf der Xbox 360 sind natürlich die kommenden exklusiven Zusatz-Episoden, doch über die lässt Rockstar – manche Dinge ändern sich eben nie – noch nichts verlautbaren…
Meinung
Ulrich Steppberger meint: Anfangs war ich skeptisch, auch weil von Rockstar so viel Geheimniskrämerei wie selten zuvor gemacht wurde. Jetzt kann ich sagen, dass die Preview-Vorführungen von Grand Theft Auto IV zu eingeschränkt waren, um bei mir die große Begeisterung zu entfachen – das fertige Spiel schafft es ohne Probleme. Das neue Liberty City steckt voller origineller Ideen und Details. Ein paar klassische Macken gibt es zwar immer noch (sind Checkpoints wirklich so schwer zu machen?), doch das neue Baller- und Deckungssystem und sinnvolle Sachen wie die Taxifahrt-Option machen das Leben leichter. Niko ist ein überraschend sympathischer Zeitgenosse und die Handlung fällt interessant aus. Klar, Fehler kann man bei Grand Theft Auto IV trotzdem noch finden, doch von mir gibt’s eine uneingeschränkte Kaufempfehlung.
Matthias Schmid meint: Seit Grand Theft Auto III war ich abstinent, diesmal hat es mich wieder gepackt. Die stimmige Welt, das tolle Fahrgefühl, die einfallsreichen Missionen – Teil 4 ist von vorn bis hinten ein Knaller. Fasziniert lausche ich interessanten Dialogen, schmunzle über die grotesken Charaktere und fühle mich meinen virtuellen Freunden und Verwandten richtig nahe. Doch hat dies auch zur Folge, dass ich ob der dargestellten Gewalt bisweilen zurückschrecke – von der abstrakten Faszination eines Kopfplatzers in einer Zombieballerei ist in der glaubhaften GTA IV-Welt nicht viel übrig. Natürlich hat auch ein Ausnahmetitel Schwächen: Hier ärgere ich mich über das furchtbar dunkle Handy-Display und so manche langweilige 08/15-Schießerei.
André Kazmaier meint: Bis sich Grand Theft Auto IV richtig entfaltet, dauert es ein paar Stunden. Dann aber zieht einen die prächtige, vor Leben sprudelnde Stadt gewaltig in ihren Bann. Die neue Online-Komponente ist klasse und spielt sich erfrischend anders. Wenn ich bei den Rennen Gegner abdränge oder im Missionsmodus feindlichen Clans die Zielperson vor der Nase wegschnappe, freue ich mich diebisch. Weniger gut gefallen mir hingegen die Deathmatch-Ballereien – die fallen bei der Ego-Shooter-Konkurrenz dynamischer aus. Insgesamt hat mir GTA IV aber gezeigt, wie viel Potenzial hier im Online-Sektor schlummert. Noch ist es nur eine nette Dreingabe. Doch wer weiß, vielleicht wird es in Zukunft eine reine Mehrspieler-Episode geben…
Wertung
riesige Stadt mit zahllosen unterhaltsamen Beschäftigungsmöglichkeiten
verbesserte Feuergefechte setzen u.a. auf In-Deckung-Gehen
durchdachtes Beziehungssystem
diesmal ’ab 18’ und ungeschnitten
Episches Ganoven-Abenteuer, das zwar nicht perfekt ist, aber doch das erhoffte gewaltige Spielerlebnis liefert.
Singleplayer94MultiplayerGrafikSound