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Habt Ihr ”Beowulf” oder ”Final Fantasy: Die Mächte in Dir” gesehen? Blieb nicht trotz der technischen Brillanz das dumpfe Gefühl, dass mit den imitierten Menschen etwas nicht stimmt? Dieses Empfinden bezeichnet die Robotik als ’Uncanny Valley’-Effekt, und der stellt auch für die Filmindustrie ein Problem dar. Wann immer reale Menschen mit dem Computer nachgeahmt werden, tritt er auf. Ab einem bestimmten Grad an Realitätsnähe wird beim Publikum weniger die Ähnlichkeit zu echten Menschen anerkannt, vielmehr stört es sich an verbliebenen Fehlern und Ungereimtheiten. Emotionale Anteilnahme an den Akteuren wird verhindert. Bei Comic-Charakteren wie in ”Toy Story” hingegen tritt das Problem paradoxerweise nicht auf. Durch das Uncanny Valley (zu Deutsch: unheimliches Tal) sind wir während der unzähligen Spielstunden häufig gefahren.
Zahlreiche Videos haben in den letzten Monaten gezeigt, wozu Ubisofts Dunia-Engine fähig ist. Die Weitsicht in der afrikanischen Savanne ist enorm, die wechselnden Wind- und Wetterverhältnisse sorgen für sensationelle Lichtspiele und Flammen verzehren Bananensträucher, Steppengras sowie Akazien gleichermaßen gierig. Für ihre technische Errungenschaft und die Liebe zum gestalterischen Detail gebührt den Programmierern von Ubisoft Montreal großes Lob. Jede Menge Ehrgeiz, Schweiß und Herzblut sind in die riesige Spielwelt geflossen. Was dem Spiel trotz größter Anstrengung jedoch fehlt, ist eine Seele.
Sandkasten in der Wüste
Um das zu verdeutlichen, ziehen wir Grand Theft Auto IV zum Vergleich heran, denn der Spielablauf in Far Cry 2 ähnelt der Gangster-Ballade: Im Zentrum der zweigeteilten Spielwelt liegt jeweils ein Dorf, wo Ihr Aufträge der APR oder UFLL annehmt. Die beiden Fraktionen bekämpfen sich nach dem Fall der Regierung und bezahlen Euch dafür, gegnerische Produktionsanlagen, Rundfunksender und Vorräte zu sabotieren oder unliebsame Rädelsführer auszuschalten. Trefft Ihr andere Söldner und Widerstandskämpfer, werdet Ihr mit einem Knopfdruck beste Freunde. Fortan schlagen sie Vorgehensweisen vor, mitunter rettet Ihr Euch aus der Bredouille.
Ballert Ihr nicht gerade missionsrelevante Gegner ab, streunt Ihr per pedes oder motorisiert durch die frei begehbare Spielwelt. Oder Ihr arbeitet für den Waffenhändler, der an mehreren Orten Filialen unterhält. Vernichtet Lieferungen der Konkurrenz und er bietet frische Waffen feil. Weitere Mordaufträge gibt es an Telefonmasten, wo Ihr Euch in die Leitungen hackt. Zu guter Letzt dealt Ihr im Auftrag des örtlichen Pfarrers mit gefälschten Papieren, um an dringend benötigte Malaria-Medikamente zu gelangen. Tut Ihr das nicht, fällt Euer Alter Ego nach ein paar Krankheitsschüben tot um.
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Zwischen GTA IV und Far Cry 2 existiert jedoch ein entscheidender Unterschied. In Rockstars Epos entsteht eine emotionale Bindung zu Niko Bellic und den Nebencharakteren. Niko arbeitet im Auftrag seines Cousins, der als Möchtegern vorgestellt wird, Muskelprotz Brucie hingegen ist ein lächerlicher Fitnessfreak. Solche Züge hauchen den Figuren Leben ein und geben dem eigenen Handeln einen Sinn.
In Far Cry 2 heißen die Akteure zum Beispiel Addi Mbantuwe. Ein Warlord, Anfang 40, kurze Haare, legeres Hemd. Keine besonderen Merkmale, der Mann ist austauschbar. Die Solidarität des Spielers beruht nicht auf persönlicher Loyalität oder der politischen Sache. Solidarität gibt es in Far Cry 2 für Diamanten. Das passt zwar zum düsteren Bürgerkrieg-Szenario, aber warum man nun Warlords, Minister oder den Polizeichef töten soll, ist egal, weil einem die Charaktere gleichgültig sind. So bleiben die zahlreichen Aufträge austauschbar und lassen sich auf die zynische Formel reduzieren: ”Fahr zum Ziel und vernichte!”
Für solche Gedanken findet Ihr die Zeit, während Ihr am Steuer von Jeep und Boot Wälder, Steppen, Berglandschaften und Wüsten erkundet. Dank der eingängigen Steuerung manövriert Ihr sie sicher über schmale Pfade und durch enge Flussadern, auf der PS3 optional via Sixaxis. Auch die Far Cry-typischen Gleiter findet Ihr wieder.
Straßenschilder mit Farbcodierung weisen bei Aufträgen die Richtung, das GPS zeigt den aktuellen Kartenausschnitt. Der ist aber so klein, dass Ihr lieber zur echten Karte auf dem Schoß Eures Avatars blickt. Dann seht Ihr mitunter nicht mehr, wohin Ihr fahrt, und haltet an oder rammt versehentlich einen Baum. Praktischerweise repariert Ihr Schäden von der verbeulten Stoßstange bis zum Einschussloch mit dem Universalschraubenschlüssel. Nur eine Schraube im Motorraum anziehen und die Karre ist wie neu.
Auf dem Weg zum nächsten Ziel trefft Ihr regelmäßig auf Wachposten, Unterschlupfe und feindliche Stellungen. Kaum nähert Ihr Euch, werdet Ihr angegriffen. Obwohl Euch die KI-Männer sogar aus über hundert Metern Entfernung sofort als Feind identifizieren, bemerkt Ihr sie häufig erst durch das Mündungsfeuer, sogar auf dem niedrigsten Schwierigkeitsgrad. Nur ein Beispiel für die extreme KI. Ein weiteres gefällig? Einerseits belauscht Ihr clevere Wortwechsel, die stets zur Situation passen, auch witzige Situationen lassen sich beobachten: Am Straßenrand steht ein Wachmann und raucht. Dann schnippt er die Kippe weg, kramt in der Hosentasche nach der leeren Schachtel und wirft sie – nach einem Rundumblick – über seine Schulter, ehe er weiterschlendert. Im Kontrast dazu fallen planlos herumstehende Krieger ebenso negativ auf wie ihre Kollegen mit den Adleraugen. Dass Eure Gegner grundsätzlich eine Menge Munition schlucken, verstärkt den zwiespältigen Eindruck.
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Es gibt nur wenige Ego-Shooter, die so viele Spielelemente unter einen Hut packen wie Far Cry 2: Ihr müsst Euch neue Wummen erst verdienen, im Tausch für Diamanten erweitert Ihr Waffenfertigkeiten und richtet im Unterschlupf ein Lager ein. Schließlich verschleißen Waffen bei Gebrauch, was in unpassenden Momenten für schweißtreibende Ladehemmungen sorgt, bis die Wumme schließlich sogar auseinanderfällt. Damit Ihr nicht irgendwann unbewaffnet dasteht, platziert bis zu drei frische Bleispritzen in einem Eurer Unterschlupfe, um auch von jedem anderen darauf zuzugreifen – da werden Erinnerungen an die alten Resident Evil-Truhen wach.
Je nach Charakterwahl und Spielverhalten nimmt der Krieg der Fraktionen und die Jagd nach dem Waffenhändler Schakal einen anderen Verlauf. Die Idee ist sensationell, bleibt aber ebenso hinter ihren Möglichkeiten zurück wie die Gefährte, die letztlich nicht mehr sind als Extraleben und alternative Missionen. Immerhin lassen sich die einzelnen Aufträge verschieden angehen: Nachts ins Dorf schleichen und Wachen leise mit der Machete meucheln oder lieber tagsüber mit gezielt gelegten Buschbränden und Sprengsätzen ablenken? Vielleicht via Auto mittenrein und dann mit dem MG alles niedermähen? Die Wahl liegt immer bei Euch. Schleichen ist zwar spannender, aber auch frustrierender, da ein Tarnindex fehlt. Ein Fehler und die Strategie ist geplatzt. Dann finden sich unvorsichtige Rambos bald schwerverletzt und von Feinden umzingelt wieder. Glücklicherweise passen bis zu sechs Heilspritzen ins Gepäck. Habt Ihr zu viel Schaden genommen, müsst Ihr Euch verarzten, ehe Ihr die Injektion setzen dürft. Dazu puhlt Ihr in krassen Bildern Projektile und Fremdkörper aus der Wunde. Ärgerlich: Diese Sequenz bricht ab, sobald Ihr weitere Treffer einsteckt, was mitten im Kampf die Regel ist. Erfreulich dagegen, dass Ihr ungestört Spritzen setzen dürft.
Trotz der angeführten Mängel begeistert Far Cry 2 insbesondere Technikfreaks mit nie dagewesenen Naturimpressionen und jeder Menge anspruchsvoller Action fernab von linearen Skript-Ballereien à la Call of Duty 4. Minimales Tearing und seltene Ruckler auf beiden Systemen fallen dabei nicht ins Gewicht. Besonders in späteren Abschnitten des Spiels erfordern die KI-Krieger Eure volle Aufmerksamkeit. Mit dieser freien Welt macht Ubisoft Cryteks Far Cry alle Ehre!
Meinung
Michael Herde meint: Regelmäßig schlendere ich ziellos durch Ubisofts Afrika, spüre versteckte Diamanten auf und bestaune feine Lichtstrahlen, die in der Dämmerung durchs Geäst brechen. Dann aber fühle ich mich wieder abgestoßen, weil nie ein spontanes Lüftchen weht oder Auftraggeber apathisch an mir vorbeiblicken. Leider sind mir der Schakal und das Schicksal der Fraktionen egal. Man kann das zwar in üppigen Textarchiven recherchieren, aber wenn ich lesen will, nehme ich ein Buch. Die Missionen verlocken zum Experimentieren, leider scheitert Schleichen bei mir oft an der Adleraugen-KI, die mich nachts im hohen Gras kauernd sofort bemerkt. Und wenn auf dem langen Weg zum Ziel der 100ste Rebellen-Jeep das Feuer eröffnet, freue ich mich auf den Sonnenaufgang, denn dann lässt Far Cry 2 wieder die Grafik-Muskeln spielen.
Oliver Schultes meint: Atmosphäre. Das ist die große Stärke von Far Cry 2. Egal, ob beim Bewundern der wunderschönen Landschaft, beim spannenden Infiltrieren eines Dorfes oder beim Lauschen der Savannen-Geräusche – das Spiel zieht Euch magisch in seinen Bann. Allerdings nur, wenn Ihr Euch dem vorgesehenen Spieltempo unterwerft: Wer das Dorf bei einem Undercover-Auftrag mit fauchender Schrotflinte betritt (weil er das so aus anderen Ego-Shootern kennt), beißt ruckzuck ins fein modellierte Gras. Bei den vielen Auseinandersetzungen mit einer Handvoll Feinden ist immer noch genug Gelegenheit, den Rambo zu mimen. Leider gestalten sich die Shootouts nicht so packend wie in Half-Life 2 oder Halo 3: Immer wieder laufen KI-Kämpfer unbeholfen vor meine Flinte oder stehen deplatziert herum – das kratzt an der Illusion einer makellosen virtuellen Welt.
Wertung
revolutionäres Licht- und Wettersystem
Editor für Mehrspieler-Karten
identisch zu ausländischen Versionen
verzweigende Handlungsstränge
installiert 2,9 GB auf Festplatte (PS3)
Technisch überwältigender Ego-Shooter mit vielen spielerischen Freiheiten, aber auch einigen Mängeln im Detail.
Singleplayer86MultiplayerGrafikSound
