MeinMMO-Dämon Cortyn hat Lost Records: Bloom & Rage gespielt. Was das Spiel taugt, verraten wir in diesem Artikel, ohne zu viel zu spoilern.
Nachdem ich von Clair Obscur Expedition 33 endlich genug hatte, wurde es Zeit für ein anderes Spiel. Etwas ruhigeres. Etwas, das seit der Ankündigung auf meiner Liste stand, aber ich bisher gemieden hatte, weil es nicht „fertig“ war.
Doch vor einigen Wochen erschien die zweite „Episode“ von Lost Records: Bloom & Rage, sodass das Spiel nun vollständig war. Also stürzte ich mich hinein und ich muss sagen: Man, das habe ich vermisst.
Autoplay
Was ist Lost Records? Lost Records ist ein neues Franchise von Don’t Nod. Den Namen habt ihr bestimmt schon gehört, denn das sind die ursprünglichen kreativen Köpfe hinter den ersten „Life is Strange“-Teilen, bis das von Deck Nine Games übernommen wurde.
Bloom & Rage ist das erste Spiel in diesem Franchise, doch die Entwickler wollen hier eine ganz neue Welt erschaffen, die über mehrere Spiele hinweg eine Geschichte erzählt.
Ich wusste im Vorfeld relativ wenig von Bloom & Rage. Abgesehen von einem ersten Teaser-Trailer habe ich mich mit dem Spiel quasi gar nicht beschäftigt und möchte hier deutlich sagen:
Nichts über das Spiel zu wissen, ist definitiv eine gute Sache. Je weniger man weiß, desto mehr kann das Spiel überraschen.
Falls euch das aber nicht abschreckt (Ich kenn’ euch doch!), gehe ich nun etwas detaillierter darauf ein, warum ich meine Zeit mit Bloom & Rage so genossen habe.
Von Belanglosigkeit zum Grusel-Thriller
Die Story von Bloom & Rage beginnt sehr sachte und langsam.
Ihr seid Swann, eine Frau mittleren Alters, die nach 27 Jahren zurück in ihre Heimat fährt. Eine ehemalige Freundin hat sich gemeldet. Sie hat ein Paket bekommen, das an die Freundesgruppe von damals adressiert ist – und das ist besorgniserregend. Sie traut sich nicht, das Paket alleine zu öffnen, denn sie wollte die Vorfälle von damals vergessen. Also trommelt sie alle Freundinnen noch einmal zusammen, um sich zu treffen und die Erlebnisse der Vergangenheit aufzuarbeiten.
Daraufhin schlüpft ihr in die Rolle der 16-Jährigen Swann im Jahr 1995. Swann ist nicht so, wie die anderen Mädchen. Sie fühlt sich nicht zugehörig und ist nicht sonderlich sozial. Außerdem hat sie Übergewicht, was auf ihr Selbstwertgefühl drückt.
Was Swann allerdings liebt, ist ihre Kamera. Die hat sie im Grunde immer dabei und filmt alles, was ihr vor der Linse kommt. Egal ob irgendwelche Grafitis, Tiere in der freien Natur oder einfach schöne Panoramen, die sie in ihrem Alltag entdeckt.
Diese Kamera ist ein zentrales Gameplay-Element. Denn zu beinahe jeder Gelegenheit könnt ihr kleine Clips von rund 10 Sekunden aufnehmen und speichern, wobei ihr selbst die Kamera führt, sie dreht, heranzoomt und die Aufnahme bestimmt. Mehrere Clips können dann zu einem kurzen Video zusammengefasst werden, in dem Swann ihre Gedanken teilt – etwa zu ihrer Katze, ihrem Wohnort oder ihrem Zimmer.
Als kleiner Bonus: Wer selbst 1995 schon aktiv erlebt hat, wird hier eine Zeitreise erleben, die einfach nostalgisch ist. Von Tamagotchis über essbare Zucker-Armbänder oder „Züchte deine Kristalle“-Sets in Kinderzimmern. Die Detailverliebtheit ist grandios und wer älter als 30 Jahre ist, dürfte sich um genau diese Zeitspanne wieder jünger fühlen.
Swann ist im Begriff aus ihrer Heimat wegzuziehen, weshalb sie noch einmal Erinnerungen sammelt. Doch als sie gerade Aufnahmen von der Videothek macht (Videotheken, wer kennt sie noch?), wird sie angefeindet. Eine junge Frau hält Swann für eine Stalkerin, die sie heimlich filmt. Das wiederum ruft ihren Freund auf den Plan, der die „perverse Stalkerin“ (uns!) vertreiben will.
Eines führt zum anderen und aus dieser Situation heraus wird Swann Teil einer freundschaftlichen Gruppe. An der Seite von Autumn, Kat und Nora verbringt sie die letzten Tage in ihrem Heimatort und will so viele Erinnerungen festhalten, wie nur möglich.
Doch irgendetwas stimmt nicht. Schon in den ersten Stunden merkt ihr, dass eure Kamera sich manchmal merkwürdig verhält. Einige Motive lassen sich nicht so richtig filmen und es kommt zu Störungen. Und dann ist da noch diese alte Minenarbeiter-Hütte im Wald, die seit Jahren verlassen scheint und doch das perfekte Geheimversteck der Mädchen wäre …
Ohne zu sehr in die spoilernden Einzelheiten gehen zu wollen: Irgendetwas Mystisches geht in diesem Wald vor. Die Grenzen zwischen Illusion, Einbildung und tatsächlicher Magie scheinen zu verschwimmen, als die Mädchen im Wald einen Pakt formen, der die weitere Handlung des Spiels bestimmen wird. Zusammen mit einem Song, der die Zukunft der Mädchen bestimmt:
Gameplay, das sich nicht wie ein Spiel anfühlt
Bloom & Rage setzt nicht auf schnelle Reaktionen. Bloom & Rage setzt auf emotionales Gameplay, das ich in dieser Form noch in keinem anderen Spiel gesehen habe.
Und ja: Man kann mit der Kamera herumrennen und versuchen, jedes blöde Graffiti, jeden Vogel und jedes unheimliche Spielzeug zu fotografieren, um den eigenen Sammel-Trieb zu befriedigen. Aber darum geht es nicht. Das ist sogar der schwächste Part des Spiels.
In Bloom & Rage geht es um Emotionen, um Freundschaft. Um eigene und fremde Bedürfnisse, um Empathie und Aufmerksamkeit. Um unangenehme Themen wie Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, unerwiderte Liebe, Rassismus, Verlust und die Suche nach dem eigenen Platz in der Welt.
Das klingt für einige jetzt so „woke“, dass sie vermutlich im Strahl kotzen – aber hey, schließt den Artikel und schönen Tag noch. Für euch ist dieses Spiel nicht.
Denn während wir Swann durch ihren Alltag mit ihren neuen Freundinnen führen, stehen nicht nur die Dialoge im Vordergrund, sondern auch die Gestik und Mimik. Die kleinen Objekte im Spiel, die man sich ganz genau anschauen kann. Die kleinen Regungen, kleinen Laute der Unzufriedenheit oder der Zustimmung.
Während sich die Mädchen unterhalten, bekommt ihr immer wieder Auswahlmöglichkeiten, wie ihr in das Gespräch eingreifen wollt. Möchtet ihr über den Witz von Nora herzhaft lachen? Oder schweigt ihr lieber, weil der Witz Autumn irgendwie peinlich berührt hat?
Egal was ihr wählt, die Gespräche laufen weiter. Während die Gespräche weitergehen, ändern sich eure Antwort-Möglichkeiten. Das Gespräch entwickelt sich, egal ob ihr eingreift oder nicht. Auch Schweigen ist eine Möglichkeit, denn nicht zu allem muss man etwas sagen. Schweigt ihr aber ständig, finden die anderen Mädchen das auch seltsam. Wer fände es auch nicht komisch, wenn eine Freundin schweigend mit der Kamera den ganzen Tag daneben steht?
Aber seid ihr lieber aufrichtig und verratet, dass ihr überhaupt keine Ahnung habt, über welche Musik-Gruppen die anderen gerade reden? Oder versucht ihr euch anzupassen und tut so, als wäret ihr auch ein Fan, um zur Gruppe zu gehören?
Corey ist nicht davon begeistert, dass wir seine Freundin filmen.
All diese kleinen Gespräche und Interaktionen haben eine Bedeutung und sind wichtig. Nicht auf einer Ebene, in der es um weltverändernde Ereignisse geht, sondern auf emotionaler, zwischenmenschlicher Ebene.
Ein paar Beispiele.
Nora fragt: „Kannst du mir eben mein Heft geben?“
Also schlendern wir zum Stapel mit den Magazinen herüber und stehen vor 7 verschiedenen Heften. Wenn wir aufmerksam waren, wenn wir in den Zwischensequenzen genau zugeschaut haben, dann wissen wir, welches der Magazine ihres sein dürfte. Geben wir ihr das falsche, ist sie enttäuscht. Sie dachte, man würde sie doch inzwischen gut genug kennen, um zu wissen, dass sie auf Punk-Rock und nicht auf Videospiele steht.
An einer anderen Stelle steht Kat vor uns und weint. Sie braucht Trost. Aber wie trösten wir sie am besten? Nehmen wir sie einfach im Arm und sind still? Reden wir mit ihr, um sie abzulenken? Bleiben wir auf Abstand und lassen sie alleine, weil sie einfach Zeit braucht?
Das sind Fragen, die wir beantworten können, wenn wir Kat gut kennen. Und das tun wir nur, wenn wir aufmerksam waren. Wenn wir die kleinen Details betrachtet haben. Kleine Details, die nicht als leuchtendes Objekt mit einer „wichtig!“-Markierung im Spiel auftauchen.
Solche Momente gibt es ständig. Findet ihr die richtige Lösung, um den Mädchen eurer Gruppe das zu geben, was sie gerade wollen? Und seid ihr dafür bereit, auch mal die eigenen Wünsche hinten anzustellen? Oder wäre es sogar gut, selbst mal rote Linien zu ziehen und zu sagen, was ihr gerade wollt? Vielleicht ist diese Ehrlichkeit ja genau das, was die anderen sich wünschen?
Fantastische Details in einer durchdachten Welt
Besonders hervorheben will ich, wie durchdacht und detailliert die Welt ist. Hier gibt es vor allem eine Szene, die mir besonders in Erinnerung geblieben ist.
Nach einem dramatischen Vorfall befindet sich Swann wieder auf ihrem Zimmer und wird von ihrer Mutter dazu verdonnert, doch endlich ihre Kartons für den Umzug zu packen.
Auf dem Bett liegt Swanns Telefon und daneben stehen einige Nummern aufgelistet, etwa die ihrer Freundinnen und die vom Tierarzt ihrer Katze.
Was das Spiel sagen will, ist relativ klar: Ruf eine dieser Nummern an. Entscheide dich, mit wem du reden willst.
Doch es geht so viel mehr. In den Spielstunden zuvor konntet ihr mehrere Gebiete erkunden, wie etwa die Videothek. Die hatte natürlich auch eine Telefonnumer an der Tür stehen. Habt ihr euch die gemerkt? Dann könnt ihr auch da anrufen.
Am Telefon könnt ihr frei wählen, wen ihr anruft. Sehr, sehr frei.
Oder habt ihr Aufnahmen von den ganzen Grafitis in der Stadt gemacht, bei denen auch manchmal eine Telefonnummer stand? Erinnert ihr euch an die? Dann könnt ihr auch die manuell eintippen. Oder einfach mal die 911 anrufen, um die Polizei zu erreichen?
Dabei sind sogar richtig abgefahrene Dinge möglich, auf die ihr beim ersten Spieldurchlauf gar nicht kommen werdet.
Diese Möglichkeiten beim Telefonat sind nur ein Detail, das mir in Erinnerung geblieben ist. Bloom & Rage ist voll davon und ihr seht sie oft erst auf den zweiten oder dritten Blick.
Bloom & Rage ist so weiblich, dass es manchmal schmerzt
Bloom & Rage ist weiblich. Nicht nur, weil es um die Beziehungen einer Gruppe junger (und später erwachsener) Frauen geht, sondern weil dementsprechend auch die Themen der Charaktere einen klar weiblich geprägten Fokus haben, der manchmal sogar leicht unangenehm sein kann.
Wenn Nora bei der heimlichen Übernachtung im Wald ein Bild zeichnet, von der comichaften Karikatur eines blutdurchtränkten Tampons mit Gesicht, der „euch alle im Schlaf heimsuchen wird“, dann dachte ich mir schon: Oh, das hätten andere Spiele sicher nicht gemacht. Und das macht es ziemlich cool.
Es gab durchaus ein paar Momente, in denen ich das verteufelt habe. In denen mir das zu weiblich war. Denn beim Treffen der Frauen, 27 Jahre später, sitzen alle mehrere Stunden lang um das ominöse Paket und debattieren darüber, ob sie es denn nun öffnen oder nicht. Sie diskutieren das so umfassend, dass ich mir mehrmals wünschte: Mädels, irgendwann ist auch genug. Jetzt macht das Paket auf oder räumt es weg. Aber wenn ihr es noch weiter zerredet, komm ich durch den Bildschirm und mach es selbst auf.
Bloom & Rage scheitert am Start und das ist schade
Lost Records: Bloom & Rage ist nicht perfekt.
Wenn ich mir die Trophäen des Spiels auf der PlayStation 5 anschaue, kann man recht gut erkennen, wo Lost Records Spielerinnen und Spieler verliert. Nämlich relativ am Anfang.
Während 85 % der Accounts zumindest die erste Entscheidung erreicht haben, hat nicht einmal die Hälfte davon das Ende des ersten Kapitels erlebt – gerade einmal 40,8%.
Das heißt, dass Bloom & Rage innerhalb der ersten Spielstunden einen großen Teil der Spielerschaft verliert.
Und ich verstehe das.
Denn der Anfang zieht sich. In den ersten paar Stunden nimmt Lost Records so viel Anlauf, dass man daran gleich mehrfach das Interesse verlieren kann.
In den ersten Stunden stolpert man unbeholfen durch Swanns Zimmer, geht absoluten Nichtigkeiten nach und fühlt sich, als wäre man in einem ganz sonderbaren Sammelspiel gefangen, in dem es nur darum geht, möglichst viele Motive mit der Kamera aufzunehmen.
Dass viele dieser vermeintlichen Nichtigkeiten und unwichtigen Details später eine große Bedeutung haben, das sieht man zu diesem Zeitpunkt nicht. Man kann es gar nicht sehen. Und ohne diesen Kontext ist der Einstieg vor allem eines: Echt langweilig.
Ich verstehe jeden, der Bloom & Rage nach einer Stunde weggelegt und nie wieder gestartet hat. Aber das ist ein Fehler. Denn nach der ersten „Nacht“-Sequenz zieht das Spiel deutlich an und geht in einen Flow über, der Spaß und vor allem neugierig macht.
Trotz dieser negativen Punkte bekommt Lost Records: Bloom & Rage eine klare Empfehlung von mir. Wer es schafft, den langatmigen Start zu ertragen, findet sich dann in einem Spiel wieder, dessen Charaktere lebendig und nahbar wirken, wie in wenig anderen Spielen zuvor.
Völlig überwältigt hat mich die Detailtiefe, die man beim ersten Spielen gar nicht realisiert. Denn schon die ersten Stunden sind so voller Hinweise, die man nicht als solche begreift. Beim zweiten Durchlauf dachte ich mir mehrfach „Holy Shit, wie konnte mir das entgehen“.
Das und die vielen unterschiedlichen Enden, machen ein mehrfaches Durchspielen überaus lohnenswert.
Lost Records: Bloom & Rage fühlt sich wie ein noch emotionaleres und tiefgründigeres „Life is Strange“ an. Es ist sogar mehr „Life is Strange“ als das neuste, echte „Life is Strange“. Das mag sich sonderbar anhören, doch wenn ihr das Ende von Bloom & Rage erreicht, werdet ihr verstehen.
Der Beitrag Lost Records: Bloom & Rage ist das bessere Life is Strange erschien zuerst auf Mein-MMO.
