MeinMMO-Dämon Cortyn hat sich zu Tabubrüchen verführen lassen. Warum ein Spiel auf Steam trotz harter Themen überzeugt, verraten wir in diesem Artikel.
Schon seit einigen Wochen hat mich „The Coffin of Andy and Leyley“ auf Steam angelächelt. Ein interessanter Grafik-Stil, ansprechende Charaktere und 97 % positive Reviews haben letztlich dazu geführt, dass ich trotz „Early Access“ zugeschlagen habe, um mir anzuschauen, was das Spiel so besonders macht.
Daher schonmal eine kleine Warnung: Wer mit (Tabu-)Themen wie Kannibalismus, Suizid, Inzest oder derber Sprache ein ganz großes Problem hat, sollte die Seite jetzt schnell schließen. Da ich ja aber eure morbide Neugierde kenne – viel Spaß beim Lesen.
„The Coffin of Andy and Leyley“ ist eine Mischung aus RPG und Horror-Spiel, wobei der Fokus klar auf der Story und den (verstörenden und grandiosen) Charakteren liegt. Das ist die Ausgangslage:
Andrew und Ashley sind in ihrer Wohnung eingesperrt. Das wurde vom Staat angeordnet, denn einige Stadtbereiche sind offenbar mit einem neuartigen, sonderbaren Parasiten infiziert und unter Quarantäne gestellt. Zwar heißt es im Fernsehen, dass man sich um die Infizierten kümmert und ihnen regelmäßig Unterstützung zukommen lässt, doch Ashley und Andrew haben seit Wochen keine Nahrung mehr bekommen.
Aber lasst mich erst ein paar Worte zu den beiden Geschwistern verlieren:
Der 22-jährige Andrew Graves („Andy“) ist verhältnismäßig zurückhaltend. Ein wenig schmächtig, aber durchaus gutaussehend und ein wenig antriebslos. Er ist eher berechnend und vorausschauend, lediglich seine Schwester lässt ihn manchmal impulsiv werden. Er sieht sich als ihr Beschützer und versucht sie vor allem vor den größten Dummheiten zu bewahren – lässt sich dann aber doch oft von ihr zu Unsinn verleiten.
Die 20-jährige Ashley Graves („Leyley“) ist ihrem Bruder gegenüber extrem besitzergreifend – sie hat einen ziemlichen Bruder-Komplex. Sie ruiniert ihm jede Beziehung und stiftet ihn schon seit jungen Jahren zu vielen Fehltritten an. Sie ist so ein schwieriges Kind gewesen, dass selbst die Eltern sich von ihr abgewandt haben und sie im Grunde ohne ihren Bruder alleine dastünde – was sie nur noch panischer dazu antreibt, ihn an sich binden zu wollen.
Wie es sich für Geschwister gehört, sind die beiden fast immerzu am streiten und die gereizte Stimmung der Quarantäne mit schwindender Nahrung trägt nur dazu bei, dass die beiden sich gegenseitig an die Gurgel gehen – was sie zumeist rasch wieder bereuen, aber nur schwer über ihren eigenen Schatten springen können.
Nachdem die beiden schon mehrfach Schwächeanfälle aufgrund von Nahrungsmangel hatten und schon mit dem Gedanken gespielt haben, sich einfach gemeinsam vom Balkon zu stürzen, ändert sich etwas. Aus der Nachbarwohnung hören sie laute, mysteriöse Musik.
Die beiden klettern über den Balkon herüber und werden Zeuge davon, wie ihr Nachbar eine dämonische Anrufung versucht, die nur zum Teil gelingt und den Kultisten am Ende tot zurücklässt.
Nachdem der erste Schock überwunden ist, sehen die beiden darin eine Rettung: Fleisch.
Andrew wehrt sich gegen den Gedanken, doch Ashley freundet sich schnell mit der Option an und überzeugt ihren Bruder rasch davon, dass dies die einzige Möglichkeit des Überlebens ist. Das ist der erste Schritt auf dem Weg des kompletten moralischen Verfalls der beiden.
Eines führt zum anderen und nach gelungener Flucht aus ihrer Wohnung versuchen die beiden sich durch die Welt zu schlagen und dabei herauszufinden, was es mit diesen Parasiten auf sich hat, wie die Dämonen-Anrufung eigentlich hätte funktionieren sollen, warum sie keine Unterstützung in Form von Nahrung erhalten haben oder warum ihre Eltern sich nie wieder gemeldet haben.
Gameplay ist zweckdienlich, aber komplett ausreichend
Kommen wir nun zum Gameplay des Spiels. Das ist, leider oder zum Glück, ziemlich simpel. Fast immer muss man nur kleine Rätsel lösen. Wenn Ashley für den Bruder etwas kochen will, sammelt man zuerst die Zutaten. Um eine Brücke zwischen zwei Balkonen zu bauen, muss man erst ein Holzbrett aus einem Schrank einbauen.
Das Gameplay ist nahezu belanglos und einfach nur ein Mittel, um ein bisschen Interaktion zu schaffen und das Spiel von einer reinen „Visual Novel“ abzuheben. Es gibt zwar Entscheidungen, die auch Einfluss auf die Story nehmen, aber diese sind bisher verhältnismäßig selten.
Der positive Aspekt ist hier, dass man mit sehr vielen Gegenständen (und Charakteren) oft interagieren kann, um verschiedene Gedanken oder Ansichten von Ashley oder Andrew zu erfahren. Das ist einfach ein bisschen „Bonus-Story“, wenn man sich für die Umgebung und die Gedanken der beiden Protagonisten interessiert.
Spannendes Gameplay sollte man aber nicht erwarten, denn dieses Spiel lebt zu 99 % von der fesselnden Story und komplexe Gameplay-Elemente stünden dem eher im Weg.
Tabu-Brüche im Dauerfeuer – und das verdammt gut umgesetzt
Klar ist, dass man bei dem Spiel über die beiden großen Themen reden muss, die für allerhand Memes, Diskussionen und auch Kritik sorgen. Denn das Spiel thematisiert eine sich anbahnende inzestuöse Beziehung zwischen Andrew und Ashley und Kannibalismus.
Auf der einen Seite ist das natürlich ein lauter Tabu-Bruch und man kann das klar als „Marketing-Stunt“ ansehen – aber das wäre aus meiner Sicht nicht gerecht. Denn diese Thematiken sind verdammt gut dargestellt und trotz der „RPG-Maker-Grafik“ stimmig, verstörend und gleichzeitig aufregend.
Es sind kleine Details, die das Ganze so gut, überzeugend und oft auch ein wenig unangenehm machen und das fand ich grandios umgesetzt:
Eine kleine Animation, die nur aus zwei Grafiken besteht, in der Andrew seine Schwester einschüchternd am Kinn hält und ihr dann leicht über die Lippen streicht.
Eine Animation aus drei Grafiken, in der Andrew das Blut der eigenen Eltern über Ashleys Kinn, ihre Nase und dann den Mund verschmiert (die beiden sind wirklich, wirklich irre).
Der Großteil des Spiels geschieht aus Ashleys Perspektive, sodass man auch ihre Gedankengänge und Emotionen mitverfolgen kann. Das macht ihre Ansichten nicht weniger verwerflich, aber zumindest in vielerlei Hinsicht nachvollziehbarer. Es sind einfach gut geschriebene, faszinierende Charaktere.
Für mich einzigartig ist die Balance zwischen „Charakter-Momenten“ und der Geschwindigkeit, in der die Geschichte voranschreitet. Denn obwohl das Spiel von der Story und den Dialogen zwischen Andy und Leyley lebt, passiert manchmal so unglaublich viel so schnell, dass man glaubt, sich in einem Fiebertraum zu befinden (und manchmal stimmt das auch). Hier mal eine kleine Abfolge von Ereignissen (Spoiler):
Ein Abend zu Besuch bei den Eltern von Ashley und Andrew
Man bricht in die neue Wohnung der Eltern ein, um an Geld zu kommen.
Die Mutter kommt früher als geplant nach Hause und man schwenkt auf die Lüge um, dass man nur mal zu Besuch kommen wollte.
Beim gemeinsamen Abendessen versucht man die Fassade einer intakten Familie aufrechtzuerhalten, während die Mutter deutlich macht, dass man am nächsten Morgen eine eigene Wohnung finden muss – am besten sogar zwei, damit die Geschwister getrennt leben.
Die Mutter lässt Ashley im Keller schlafen, während Andrew auf dem Sofa im Wohnzimmer unterkommen soll – als vermute sie bereits, dass da irgendeine „Gefahr“ zwischen den beiden ist.
Ashley schleicht sich nachts zu ihrem Bruder, krabbelt zu ihm und versucht ihn davon zu überzeugen, die Eltern nun zu fesseln und das Ritual des Kultisten durchzuführen, um die Gunst des Dämons zu erhalten.
Die Mutter kommt noch einmal aus dem Schlafzimmer, um das Gespräch mit Andrew zu suchen und ihm „etwas über Ashley zu verraten“, bevor sie sieht, dass Ashley gerade versteckt vor dem Sofa kniet.
Ashley lockt die Mutter in den Keller, während Andrew ein Seil suchen soll und dabei die unangenehme Erfahrung macht, das Sex-Spielzeug der Eltern durchsuchen zu müssen.
Nachdem Ashley die Eltern gefesselt und bedroht hat, überlässt sie Andrew die Wache, damit sie noch einige notwendige Gegenstände für das Ritual sucht.
Gefesselt versucht die Mutter ihren Sohn zu überzeugen. Als dieser ablehnt, sagt sie ihm direkt ins Gesicht: „Du fickst sie, oder?“
Diese ganzen Aktionen finden in einem Zeitraum von vielleicht 10 oder 15 Minuten statt. Es ist ein Dauerfeuer an Situationen und Momenten, in denen man fassunglos und doch mit morbider Neugierde zuschaut und immer wieder in bester Gordon-Ramsay-Manier „Uh, spicy“ denkt.
Derbe Sprache, die alles überzeugender macht
Besonders begeistert hat mich die allgemeine Derbheit des Spiels.
Wo viele andere Spiel schon als provokativ gelten, wenn ein Charakter mal „Fuck!“ sagt, hat sich The Coffin of Andy and Leyley diese Grenze bewusst nicht gesetzt. Das macht die Charaktere realistischer und nachvollziehbar. Sie sprechen, wie Menschen sprechen würden und das verleiht den ganzen Dialogen einen bedrückenden und zugleich faszinierenden Realismus, den ich in vielen „großen AAA-Spielen“ vermisse.
Vor allem bei den Streitereien zwischen den beiden Geschwistern, die kein Blatt vor den Mund nehmen, hat man wirklich den Eindruck: Das sind Menschen. Das sind Geschwister, die sich ohne Zurückhaltung gerade die Meinung sagen und auch mal im Zorn fies beleidigen – und zwar richtig fies.
Getoppt wird das eigentlich nur, wenn man herausfindet, welche Sprachnachrichten Ashley den potenziellen Freundinnen von Andrew auf die Mailbox gesprochen hat. Das ist so bösartig, so rau und so voller verzehrender Eifersucht, dass ich die Worte am liebsten gar nicht ausschreiben will, weshalb ich euch das lieber nur als Screenshot zeige:
Es ist nicht fertig – und das ist schlecht
Der einzige, wirklich große Negativpunkt ist für mich, dass „The Coffin of Andy and Leyley“ sich noch im Early Access befindet. Das bedeutet, dass die Story nach dem 2. Kapitel endet und man auf die Fortsetzung noch warten muss. Das war nach ungefähr 4 Stunden Spielzeit der Fall.
Doch die Welt und die Charaktere überzeugen und verstören gleichermaßen. Ich kann kaum erwarten, wie es mit Ashley und Andrew weitergeht – und welche moralischen Grenzen sie noch einreißen werden.
Wer ein fesselndes, verstörendes Abenteuer mit zwei gleichermaßen großartigen wie gruseligen Charakteren erleben will, sollte sich das Spiel holen. Für knapp 10 € macht man hier nichts falsch und bekommt viele Momente zu sehen, über die man fasziniert und/ oder angewidert nachdenken kann.
Ich kann kaum darauf warten zu sehen, wie die Geschichte weitergeht, ob Ashley ihren Bruder “rumkriegt” und wie viele Leichen ihren Weg noch pflastern oder ihre Teller füllen werden.